Eilrechtsschutz gegen Ablehnung des Asylantrags einer Transfrau aus dem Kosovo als offensichtlich unbegründet:
1. Besonders schutzbedürftige Schutzsuchende haben im Asylverfahren einen Anspruch darauf, von hierzu geschulten Fachkräften angehört zu werden, Art. 15 Abs. 3 S. 2 Bst. a Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU]. Bei einer Person, die Opfer schwerer sexueller/sexualisierter Gewalt geworden ist, bedarf es angesichts erlittener Traumatisierungen und der Betroffenheit der Intimsphäre einer Anhörung mit genügend Zeit und besonderer Sensibilität. Eine "Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung" erst nach der Anhörung zu beteiligen, ist dafür nicht ausreichend.
2. Es kann hier dahinstehen, ob eine Anhörung besonders schutzbedürftiger Personen zwingend durch eine vom BAMF formell als "Sonderbeauftragte" geführte Person erfolgen muss. Die anhörende Person hat zumindest auch inhaltlich eine besondere Sensibilität bei der Befragung vermissen lassen und insbesondere die Geschlechtsidentität der antragstellenden Transperson ignoriert.
3. Selbst für den Fall, dass die Fehlerhaftigkeit der Anhörung die Entscheidung nicht beeinflusst haben sollte, ist dieser Verfahrensfehler nicht gemäß § 46 VwVfG unbeachtlich und der Bescheid voraussichtlich aufzuheben. Das gilt unabhängig davon, dass die betroffene Person aus dem Kosovo und mithin einem sicheren Herkunftsstaat gemäß § 29a Abs. 2 AsylG stammt.
4. Eine Heilung im gerichtlichen Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG scheidet ebenfalls aus. Denn der Grundsatz des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 GG schließt es aus, den Verletzlichkeit einer schutzsuchenden Person durch Bestimmung einer entsprechenden Anhörperson Rechnung zu tragen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 30.03.2021 - 31 K 324/20 A (Asylmagazin 5/2021, S. 175 ff.) - asyl.net: M29542; siehe zum persönlichen Gespräch im Dublin-Verfahren: VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 09.01.2023 - 1 K 1582/22 - asyl.net: M32110)
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2. Der zulässige Eilantrag hat Erfolg, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen, § 36 Abs. 4 AsylG. [...]
a. Die Antragstellerin ist am 7. Februar 2023 beim Bundesamt unzureichend angehört worden. Der erkennende Einzelrichter folgt der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin (Urteil vom 30. März 2021 – 31 K 324/20 A, juris Rn. 29), wonach die Anhörung von Personen, die Opfer schwerer sexueller Gewalt geworden sind, erhöhten Anforderungen genügen muss.
Die Antragstellerin gehört nach Auffassung des erkennenden Einzelrichters zum Kreis derjenigen Personen, die in der Folge einer schweren sexuellen Gewalterfahrung besonderer Verfahrensgarantien bedürfen (Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU – i.V.m. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU), um ihrer Verpflichtung nachkommen bzw. ihr Recht wahrnehmen zu können, die zur Begründung ihres Schutzbegehrens erforderlichen Tatsachen vorzutragen (Art. 16 der Richtlinie 2013/32/EU i.V.m. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU). [...]
Besonders schutzbedürftige Antragstellerinnen und Antragsteller haben den Anspruch, von hierzu geschulten Fachkräften angehört zu werden (Art. 15 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2013/32/EU; dazu: Dörig MigrationsR-HdB, § 19 Nationales Asyl- und Asylverfahrensrecht Rn. 405, beckonline). Inhaltlich bedurfte es einer Anhörung mit genügend Zeit und besonderer Sensibilität für die Scheu, die eigene Verfolgungsgeschichte zu erzählen, die vorliegend gegebenenfalls nicht nur aus einer erlittenen Traumatisierung, sondern auch aus der Betroffenheit der Intimsphäre und soziokulturellen Prägung der Antragstellerin resultierte. Die Ausgestaltung einer solchen Anhörung darf die Antragstellerin nicht überfordern, muss es ihr aber auch ermöglichen, das gesamte Ausmaß der erlittenen Verfolgung ganzheitlich zu schildern, damit der jeweilige Sachverhalt tatsächlich aufgeklärt, die Glaubhaftigkeit beurteilt und eine negative Auswirkung auf den gegebenenfalls bestehenden Schutzanspruch vermieden werden kann.
Die Anhörung vom 7. Februar 2023 wurde diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht. Die Antragsgegnerin hat zum einen nicht dargelegt, dass der Anhörer über eine Befähigung, die besondere Schutzbedürftigkeit der Antragstellerin insbesondere hinsichtlich ihrer sexuellen Ausrichtung und Geschlechtsidentität (Art. 15 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2013/32/EU) zu berücksichtigen, verfügte. Die Antragstellerin weist zutreffend darauf hin, dass die erfolgte Beteiligung einer Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifisch Verfolgte, die erst nach der Anhörung erfolgte, dafür nicht ausreicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine Anhörung besonders schutzbedürftiger Antragsteller zwingend durch eine vom Bundesamt formell als "Sonderbeauftragte" geführte Person erfolgen muss [...].
Zum anderen hat der Anhörer auch inhaltlich eine besondere Sensibilität bei der Befragung der Antragstellerin vermissen lassen. Zunächst hat es der Anhörer versäumt, die Antragstellerin hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität – dass heißt der Frage, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlt –, zu befragen und die Anrede entsprechend danach auszurichten, um das Vertrauen zu stabilisieren. Bei einem Vortrag zu Transsexualität ist eine gendergerechte Ansprache im Rahmen der Anhörung von besonderer Bedeutung. Auf den Einwand der Antragstellerin, sie sei in der Anhörung nicht als "Frau" angesprochen worden, hat die Antragsgegnerin nicht reagiert. Auch aus dem Bescheid (etwa durch Eintragung des gewünschten Namens als "alias"-Personalie) geht nicht hervor, dass die Antragstellerin hinsichtlich ihrer Transsexualität befragt und ernst genommen wurde. [...]
In der Folge ist auch nicht auszuschließen, dass die Antragstellerin ihre Ausführungen zu den von ihr erlittenen schweren sexuellen Gewalterfahrung weiter substantiiert hätte. [...]
Eine asylrechtlich relevante Verfolgung der Antragstellerin kann auch nicht – anders als im Vermerk des Bundesamtes vom 16. Februar 2023 angenommen – von vornherein ausgeschlossen werden, weil es für "LGBTI Personen" im Kosovo Hilfsangebote gebe und ein rechtlicher Rahmen zum Schutz von "LGBTI Personen" geschaffen worden sei. Die Prüfung, ob ein Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG besteht, hängt zunächst von der Beantwortung der Frage ab, welche Art der Verfolgung der betroffenen Person im Falle einer Rückkehr in ihr Herkunftsland droht. Auch der Umstand, ob der betroffenen Person eine Verfolgung durch bestimmte Einzelpersonen oder generell durch im Herkunftsland verbreitete Gewalt- und Diskriminierungsmuster droht, kann von Bedeutung sein.
Ergänzend weist der erkennende Einzelrichter auf das Recht der Antragstellerin hin, das Bundesamt um eine Anhörung und/oder Übersetzung durch eine Person eines bestimmten Geschlechts zu ersuchen (vgl. Art. 15 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe b und c der Richtlinie 2013/32/EU).
b. Die besondere Bedeutung der Anhörung im Asylverfahren führt grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids, wenn die Anhörung nicht in hinreichendem Umfang im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wird.
Dass der Verfahrensmangel nach § 46 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) unbeachtlich ist, weil im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens ein die nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 Buchstabe a der Richtlinie 2013/32/EU geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien wahrendes persönliches Gesprächs mit der Antragstellerin durchgeführt werden kann, und trotz des Vorbringens dieser im Rahmen dieses persönlichen Gesprächs keine andere Entscheidung ergehen kann, kann derzeit nicht festgestellt werden. [...]
Selbst für den Fall, dass die (mutmaßliche) Fehlerhaftigkeit der Anhörung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst haben sollte, wäre es mit der praktischen Wirksamkeit der einschlägigen Anforderungen aus der Richtlinie 2013/32/EU Verfahrensrichtlinie unvereinbar, wenn das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht eine von der Asylbehörde unter Verletzung der Anhörungspflicht erlassene Entscheidung bestätigen könnte, ohne selbst den Schutzsuchenden unter Wahrung der im Einzelfall anwendbaren grundlegenden Bedingungen und Garantien angehört zu haben (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 – C-517/17, Rn. 68, 71).
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Antragstellerin aus dem Kosovo, einem sicheren Herkunftsstaat nach der Anlage II zu § 29a Abs. 2 AsylG, stammt, und der Asylantrag eines Ausländers aus einem solchen Staat bereits kraft Gesetzes (gemäß § 29a Abs. 1 AsylG) als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, wenn nicht die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel ausnahmsweise die Annahme begründen, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht. Denn dieser Umstand macht die persönliche Anhörung nicht entbehrlich und den Anhörungsfehler nach § 46 VwVfG unbeachtlich, weil der Antragstellerin ohne diese Anhörung die Möglichkeit abgeschnitten wird, eine Ausnahme von dem in § 29a Abs. 1 AsylG normierten Regelfall der offensichtlichen Unbegründetheit seines Asylantrags darzulegen (vgl. auch VG Freiburg, Beschluss vom 27. Juni 2016 – A 4 K 1434/16, juris Rn. 9).
Eine mögliche Heilung gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG ist bislang nicht erfolgt. Zwar kann eine zu Unrecht unterlassene Anhörung unter bestimmten Voraussetzungen im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 2021 – 1 C 41.20, Rn. 26).
Der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG) schließt es im vorliegenden Fall jedoch aus, im Rahmen der Bestimmung der Anhörperson gezielt der beschriebenen Verletzlichkeit der Antragstellerin Rechnung zu tragen, und zwar ungeachtet dessen, dass Fähigkeit und Bereitschaft zur problemsensiblen, von interkultureller Kompetenz getragenen Durchführung einer mündlichen Verhandlung allen in Asylverfahren tätigen Verwaltungsrichterinnen und -richtern abverlangt sind. [...]