VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.03.2021 - 31 K 324/20 A (Asylmagazin 5/2021, S. 175 ff.) - asyl.net: M29542
https://www.asyl.net/rsdb/M29542
Leitsatz:

Unterlassung der Hinzuziehung von Sonderbeauftragten für die Anhörung ist nicht heilbarer Verfahrensfehler:

1. Eine Anhörung im Asylverfahren, die unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften durchgeführt wurde, ist einer nicht erfolgten Anhörung gleichzustellen.

2. Handelt es sich bei der antragstellenden Person mutmaßlich um ein Opfer sexualisierter Gewalt, so gebietet es die Asylverfahrensrichtlinie, die Anhörung durch eine entsprechend geschulte Person und unter Wahrung der gebotenen Sensibilität durchzuführen.

3. Erfolgt dies nicht, so handelt es sich um einen durch das Gericht nicht heilbaren Verfahrensfehler mit der Folge, dass der streitgegenständliche Bescheid durch das Gericht aufzuheben ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Anhörung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfahrensfehler, Aufhebung, Spruchreife, sexuelle Gewalt,
Normen: RL 2013/32/EU Art. 15 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 16, RL 2013/32/EU Art. 24 Abs. 3, GVG § 171b, VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 25, VwGO § 113 Abs. 5 S. 1,
Auszüge:

[...]

1.1 Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO zulässig. Das gilt auch, soweit sich der Kläger gegen die negativen, eine Schutzgewährung versagenden Sachentscheidungen zu Ziffer 1 bis 3 des Bescheides vom 10. Dezember 2020 wendet. Insoweit stellt sich die Klage als isolierte Anfechtungsklage dar, für die insbesondere ein Rechtsschutzbedürfnis besteht.

Zwar sind die Verwaltungsgerichte wegen ihrer Verpflichtung zur Herstellung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO und zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO auch in asylrechtlichen Klageverfahren grundsätzlich verpflichtet, "durchzuentscheiden". Die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens mit der hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens und den daran anknüpfenden Verfahrensgarantien kann in besonderen Fallkonstellationen aber eine Ausnahme von diesem Grundsatz rechtfertigen. Ein solcher (Ausnahme-)Fall kann unter anderem dann vorliegen, wenn das Bundesamt zu Unrecht ohne Anhörung in der Sache über einen Asylantrag entschieden hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2019 - BVerwG 1 C 46.18 -, juris Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2021 - A 12 S 2583/18 -, juris Ls. 1 u. Rn. 28 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 25. Mai 2020 - 5 A 461/16.A -, juris Rn. 19 ff.; zumindest teilweise abweichend z.B. noch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. Januar 2017 - 4 A 3051/15.A -, juris Ls. 1 u. Rn. 7 ff. m.w. Nachw. <für den Fall einer Entscheidung des Bundesamtes nach Aktenlage bei ordnungsgemäßer Ladung des Asylbewerbers>; kritisch ferner auch Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, Werkstand: 39. EL Juli 2020, § 113 Rn. 200). Dem steht der Fall gleich, dass eine Anhörung zwar stattgefunden hat, diese sich aber in wesentlicher Hinsicht als unzulänglich darstellt und dem Fehler der Anhörung im gerichtlichen Verfahren nicht (mehr) mit den verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen über die Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern (§§ 45 und 46 VwVfG) begegnet werden kann (ähnlich Sächsisches OVG, Urteil vom 25. Mai 2020, a.a.O., Rn. 20; s. insoweit auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2019 - OVG 3 B 8.17 -, juris Rn. 21 ff.: Nachholung einer etwaigen unzulänglichen behördlichen Anhörung bei Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG im gerichtlichen Verfahren jedenfalls dann möglich, wenn das Unionsrecht keine besonderen Anforderungen an die Anhörung stellt, die im gerichtlichen Verfahren nicht ohne Weiteres erfüllt werden können). In einem solchen Fall wird der Zweck des aus § 25 Abs. 1 Satz 3 und § 25 AsylG sowie - unionsrechtlich - aus Art. 14 ff. der Richtlinie 2013/32/EU (sog. Verfahrensrichtlinie) folgenden Anhörungserfordernisses verfehlt. Dieser besteht darin, zu einer effektiven Durchsetzung des materiellen Rechts beizutragen, indem jedem Schutzsuchenden die Gelegenheit verschafft wird, mit den zuständigen Behörden zu kooperieren und effektiv mit ihnen ·zu kommunizieren, um den Behörden den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt darlegen zu können (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2018 - BVerwG 1 C 18.17 -, juris Rn. 38; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2019, a.a.O., Rn. 21; s. jetzt ausführlich auch EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - Rs. C-517/17 -, juris Rn. 54 <zur in Art. 34 Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Anhörung im Rahmen der Entscheidung Ober die Zulässigkeit eines Asylantrags>). Dieser Zweck gebietet es, dass das Bundesamt bei einem Anhörungsfehler der zuvor beschrieben Art zunächst das Asylverfahren fortsetzt und dem Betroffenen Gelegenheit gibt, sich in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Anhörung zu äußern. Das gerichtliche Verfahren vermag in einer solchen Konstellation das Verwaltungsverfahren nicht zu ersetzen bzw. ergänzen, mit der Folge, dass eine Verurteilung zur Vornahme einer für den Betroffenen positiven Sachentscheidung im Wege eines Verpflichtungsbegehrens (§ 42 Abs. 1, 2. Var. VwGO) nicht erstritten werden kann.

Dies zugrunde gelegt, ist auch im Fall des Klägers um (Hauptsache-)Rechtsschutz gegen die eine Schutzgewährung versagenden Sachentscheidungen des Bundesamtes ausnahmsweise im Wege der (isolierten) Anfechtungsklage nachzusuchen. Der Kläger macht unter anderem geltend, seine Anhörung im Asylverfahren hätte aufgrund seiner Erlebnisse in der Vergangenheit von einem Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung durchgeführt werden müssen. Der Sache nach beruft sich der Kläger somit darauf, dass seine am 7. Dezember 2020 erfolgte Anhörung beim Bundesamt nicht den unionsrechtlichen Vorgaben aus der Richtlinie 2013/32/EU genügt habe, weil er als (mutmaßliches) Opfer schwerer sexueller Gewalt besondere Verfahrensgarantien benötigt hätte. Wie das Gericht bereits im Beschluss vom 25. Januar 2021 im vorangegangenen Eilverfahren des Klägers (VG 31 L 323/20 A) unter Heranziehung der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 16. Juli.2020, a.a.O., Rn. 71 f.) sowie des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 24. Oktober 2019 - BVerwG 1 C 26.16 -, juris Rn. 20) festgestellt hat, handelt es sich bei den hier im Raum stehenden Mängeln der Anhörung um Verfahrensfehler, die im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG geheilt werden können, sondern allenfalls durch eine - hier nicht erfolgte - Nachholung der persönlichen Anhörung durch das Bundesamt: Weder die Möglichkeit des Klägers, im Klageverfahren schriftlich die Umstände darzulegen, die die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen in Frage stellen, noch die Verpflichtung des Gerichts, alle relevantem Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln und dazu den Kläger gegebenenfalls selbst anzuhören, vermögen jedenfalls im konkreten Einzelfall eine Anhörung unter Einhaltung sämtlicher der in der Richtlinie 2013/32/EU (und namentlich deren Art. 15) vorgeschriebenen grundlegenden Bedingungen und Garantien zu gewährleisten. Ergänzend bezieht sich das Gericht insoweit auf den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, der hierzu im Urteil vom 22. Februar 2021 (a.a.O. Rn. 39) unlängst grundsätzlicher noch wie folgt ausgeführt hat:

"Die Anhörung im gerichtlichen Asylverfahren kann die Anhörung im Rahmen des behördlichen Asylverfahrens nicht insgesamt gleichwertig ersetzen. Das gerichtliche Verfahrensrecht ist insgesamt auf Kontrolle einer behördlichen Entscheidung in einem transparenten, vom Grundsatz der Öffentlichkeit geprägten kontradiktorischen Verfahren durch den gesetzlichen Richter angelegt. Die Funktion des Grundsatzes der Nichtöffentlichkeit des behördlichen Verfahrens kann auch bei einer erweiternden Auslegung des § 171b GVG im. gerichtlichen Verfahren, wie sie zum Schutz der Privatsphäre von Asylbewerbern angezeigt sein kann, die aber den Grundsatz der Öffentlichkeit nicht generell aufheben darf, im gerichtlichen Verfahren nicht verwirklicht werden; denn er zielt auf die Gestaltung einer offenen Kommunikationssituation insgesamt. Der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 GG) schließt es aus, im Rahmen der Bestimmung der Anhörperson gezielt Besonderheiten der kulturellen Herkunft oder der Verletzlichkeit des Antragstellers Rechnung zu tragen, und zwar ungeachtet dessen, dass Fähigkeit und Bereitschaft zur problemsensiblen, von interkultureller Kompetenz getragenen Durchführung einer mündlichen Verhandlung allen in Asylverfahren tätigen Verwaltungsrichterinnen und -richtern abverlangt sind (BVerwG, Urteil vom 11.07.201 8 - 1 C 18.17 -, juris Rn: 50)."

Soweit dies anhand der bislang allein vorliegenden Pressemitteilung ( abrufbar unter www.bverwg.de/pm/2021/21) nachvollzogen werden kann, zwingt das am heutigen Tag bekannt gewordene Urteil des Bundesverwltungsgerichts vom 30. März 2021 - BVerwG 1 C 41.20 - zu keiner anderen Beurteilung des Falls. Zwar geht das Bundesverwaltungsgericht darin offenbar davon aus, dass es nicht schlechterdings ausgeschlossen ist, eine im behördlichen Verfahren unterbliebene Anhörung (zu einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) im Einzelfall unter Beachtung der grundlegenden Bedingungen und Garantien aus der Richtlinie 2013/32/EU im Wege einer gesonderten persönlichen Anhörung durch das Gericht nachzuholen (wobei die nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU zu gewährleistende angemessene Vertraulichkeit dem Bundesverwaltungsgericht zufolge etwa im Rahmen eines Erörterungs- oder Beweistermins oder bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 171b GVG durch einen Ausschluss der Öffentlichkeit für die Dauer der Anhörung gewahrt werden kann, sofern der Kläger nicht ausdrücklich und eindeutig auf die Vertraulichkeit verzichtet). Jedoch zeichnet sich der vorliegende Fall durch die Besonderheit aus, dass sich der Kläger darauf beruft, seiner besonderen Verletzlichkeit hätte im Rahmen der Bestimmung der Anhörperson Rechnung getragen werden müssen, indem die Anhörung durch einen Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung hätte vorgenommen werden müssen. Es ist nicht ersichtlich, wie dem dadurch begegnet werden könnte, dass das Gericht die Anhörung selbst nachholt. Jedenfalls ist das Gericht auch nach der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu einer solchen Vorgehensweise prozessrechtlich nicht verpflichtet. [...]

Die negativen, eine Schutzgewährung versagenden Sachentscheidungen zu Ziffer 1 bis 3 des Bescheides sind rechtswidrig, weil das Bundesamt seiner Verpflichtung zur persönlichen Anhörung des Klägers nicht ausreichend nachgekommen ist. Zur Begründung verweist das Gericht auf die Ausführungen im Beschluss vom 25. Januar 2021 im vorangegangenen Eilverfahren des Klägers (VG 31 L 323/20 A). Darin hat das Gericht ausgeführt, dass der Kläger am 7. Dezember 2020 beim Bundesamt unzureichend angehört worden war, weil er zum Kreis derjenigen Personen zu rechnen war, die in der Folge einer schweren sexuellen Gewalterfahrung besonderer Verfahrensgarantien bedurften (Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU i.V.m. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU <sog. Qualifikationsrichtlinie>), um ihrer Verpflichtung nachkommen bzw. ihr Recht wahrnehmen zu können, die zur Begründung ihres Schutzbegehrens erforderlichen Tatsachen vorzutragen (Art. 16 der Richtlinie 2013/32/EU i.V.m. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU). Personell musste der Anhörer befähigt sein, diese Schutzbedürftigkeit des Klägers zu berücksichtigen (Art. 15 Abs. 3 Satz 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU). Inhaltlich bedurfte es einer Anhörung mit genügend Zeit und besonderer Sensibilität für die Scheu, die eigene Verfolgungsgeschichte zu erzählen, die vorliegend gegebenenfalls nicht nur aus einer erlittenen Traumatisierung, sondern auch aus der Betroffenheit der Intimsphäre und soziokulturellen Prägung des Klägers resultierte. Die Ausgestaltung einer solchen Anhörung darf den Kläger nicht überfordern, muss es ihm aber auch ermöglichen, das gesamte Ausmaß der erlittenen Verfolgung ganzheitlich zu schildern, damit der jeweilige Sachverhalt tatsächlich aufgeklärt, die Glaubhaftigkeit beurteilt und eine negative Auswirkung auf den gegebenenfalls bestehenden Schutzanspruch vermieden werden kann.

Wie das Gericht in dem Eilbeschluss vom 25. Januar 2021 sodann im Einzelnen aufgezeigt hat, wurde die Anhörung vom 7. Dezember 2020 diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht: Zum einen wurde die Anhörung durch einen Sonderbeauftragten vorgenommen, der über eine entsprechende Befähigung lediglich bezüglich der traumatisierenden Folgen, nicht jedoch bezüglich der Geschlechtsspezifik des vorgetragenen Verfolgungsschicksals verfügte. Dieser erkannte zutreffend, dass die Einbeziehung eines Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifisch Verfolgte in die Anhörung erforderlich gewesen wäre, die indes misslang. Zum anderen war der Anhörer zwar in mustergültiger Form darauf bedacht, den nach seinem Bekunden traumatisierten Kläger durch die Befragung nicht zu überfordern. Dies hatte jedoch zur Folge, dass ein Teil der für die Entscheidung über das Schutzbegehren maßgeblichen Fragen offen blieb, was dem Kläger potenziell zum Nachteil gereicht. So wurde nicht hinreichend geklärt, ob der Kläger die Glaubhaftigkeit seines Vergewaltigungsvortrags zumindest ansatzweise durch Detailangaben untermauern kann. Vor allem jedoch wurde dem Kläger nicht ausreichend Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äußern, ob im Fall der Rückkehr eine Wiederholungsgefahr besteht. Ihm wurde im Rahmen der Rückübersetzung zwar die Frage gestellt, ob aus dem Vorfall in Waounde gegenwärtig noch eine Gefahr resultierte. Deren Beantwortung war der Kläger jedoch erkennbar ausgewichen, indem er lediglich auf die Folgen seiner Zehenamputation verwies. Die Schutzbedürftigkeit des Klägers hätte es erfordert, ihm zu verdeutlichen, dass eine weitergehende Substantiierung seines Verfolgungsvortrags und Beantwortung der gestellten Fragen zur Vermeidung nachteiliger Folgen für sein Schutzbegehren geboten war. Dabei hat das Gericht nicht verkannt, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass dem mittlerweile erwachsenen Kläger noch 15 Jahre nach den (mutmaßlichen) Taten erneut ein sexueller Übergriff droht. Eine solche Wiederholungsgefahr kann indes - anders als im Vermerk des Bundesamtes vom 11. Dezember 2020 angenommen - nicht per se ausgeschlossen werden, ohne dass der Kläger dazu in einer seiner Schutzbedürftigkeit Rechnung tragenden Form angehört worden ist. [...]