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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 28.12.2023 - 38 L 510/23 V - asyl.net: M32082
https://www.asyl.net/rsdb/m32082
Leitsatz:

Verpflichtung zur Erteilung eines Visums zum Elternnachzug im Eilverfahren:

"1. Beim Elternnachzug zu einem subsidiär schutzberechtigten Kind besteht ein Anordnungsgrund [die erforderliche Eilbedürftigkeit] für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, wenn der 18. Geburtstag kurz bevorsteht. Mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes wird nämlich der Anspruch der Eltern eines Minderjährigen aus § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG – unabhängig von der Erfüllung weiterer Voraussetzung – erlöschen.

2. Das Nicht-Eingreifen des Ausschlussgrundes des § 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG kann mit einem aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister (BZR) nachgewiesen werden. Entscheidend sind aber ebenso die in den Ausländer- und Asylakten ersichtlichen Informationen, da sämtliche Strafverfolgungsstellen zur Mitteilung über die Einleitung und den Ausgang des Verfahrens in Strafsachen gegen Schutzsuchende an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (§ 8 Abs. 1a AsylG, Nr. 42a MiStra) sowie über die Einleitung und den Ausgang des Verfahrens in Strafsachen gegen Ausländer an die zuständigen Ausländerbehörden (§ 87 Abs. 4 S. 1 AufenthG, Nr. 42 Abs. 1, Abs. 6 MiStra) verpflichtet sind [...].

3. Bei der Überprüfung des durch § 36a Abs. 1 AufenthG eingeräumten Ermessens ist zu berücksichtigen, dass die Ausübung des individuellen Ermessens des § 36a Abs. 1 AufenthG durch den Umstand, dass nachfolgend eine Auswahlentscheidung nach bestimmten Kriterien (§ 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG) vorzunehmen ist, eingeschränkt ist [...].

4. Eine Verpflichtung zur vorläufigen Erteilung des Visums (statt einer bloßen Verpflichtung zur Berück­sichtigung des Visumsantrags bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG) kommt in Betracht, wenn ansonsten ein Rechtsverlust droht und die maßgebliche Zeitverzögerung auf eine Behörde der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen ist."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 07.01.2022 - 38 K 380/21 V (Asylmagazin 9/2022, S. 327 ff.) - asyl.net: M30388)

Schlagwörter: Elternnachzug, Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, minderjährig, Straftat, Bundeszentralregister, Ermessen, Vorwegnahme der Hauptsache,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 1, AufenthG § 36a Abs. 1 S. 2, AufenthG § 36a Abs. 3 Nr. 2, AufenthG § 36 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 87 Abs. 4 S. 1, MiStra Nr. 42 Abs. 1, MiStra Nr. 42a
Auszüge:

[...]

11 Nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen. [...]

12 I. Nach den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäben war zugunsten der Antragstellerin zu 1.) die begehrte einstweilige Anordnung auszusprechen. Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung ist nötig, um wesentliche Nachteile von dieser und dem Stammberechtigten abzuwenden (§ 123 Abs. 1 S. 2 VwGO).

13 Anspruchsgrundlage für den Nachzug einer Mutter zu ihrem subsidiär schutzberechtigten Kind ist (§ 6 Abs. 3 S. 2 i.V.m.) § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG. Danach kann den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der – wie der stammberechtigte Sohn der Antragstellerin zu 1.) – eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn sich kein anderer Elternteil im Bundesgebiet befindet.

14 1. Da Grundvoraussetzung dieser Anspruchsgrundlage ist, dass das subsidiär schutzberechtigte Kind zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bzw. der Einreise des Elternteils minderjährig ist [...] und der stammberechtigte Sohn der Antragstellerin zu 1.) bereits in wenigen Tagen, nämlich am 1. Januar 2024, volljährig wird, droht der Antragstellerin zu 1.) ein nicht hinzunehmender Rechtsverlust. Mit Eintritt der Volljährigkeit des Sohnes der Antragstellerin zu 1.) wird ihr Anspruch als Mutter eines Minderjährigen aus § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG nämlich – unabhängig von der Erfüllung weiterer Voraussetzung – erlöschen, so dass der erforderliche Antragsgrund vorliegt.

15 2. Die Antragsteller haben ferner glaubhaft gemacht, dass sie mit der die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden hohen Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Erteilung eines Visums an die Antragstellerin zu 1.) zum Elternnachzug zu ihrem stammberechtigten Sohn haben.

16 a) Die allgemeinen und besonderen Voraussetzungen der Erteilung des Visums an die Antragstellerin zu 1.) nach (§ 6 Abs. 3 S. 2 i.V.m.) § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG sind erfüllt.

17 Der syrische Reisepass der Antragstellerin zu 1.) ist bis zum 2. Oktober 2029 gültig (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 AufenthG); Zweifel an ihrer Identität sind nicht ersichtlich (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG). Von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 AufenthG) und der besonderen Erteilungsvoraussetzung für den Familiennachzug zu Ausländern des ausreichenden Wohnraums (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) ist für den Elternnachzug zu einem subsidiär schutzberechtigten Kind abzusehen (§ 36a Abs. 1 S. 2 a.E. AufenthG).

18 Ferner ist die o.g. Grundvoraussetzung des Elternnachzugs nach § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG – die Minderjährigkeit des subsidiär schutzberechtigten Kindes zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bzw. der Einreise des Elternteils – vorliegend (noch) erfüllt. Der Sohn der Antragstellerin zu 1.) wird erst am 1. Januar 2024 volljährig. Dabei steht die Kürze des bis zum Eintritt der Volljährigkeit verbleibenden Zeitraums der Erteilung nicht entgegen (siehe dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 26. Januar 2018 – OVG 3 S 12.18 –, S. 3).

19 Auch die weiteren (positiven) besonderen Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. So bestehen keine Zweifel an der Mutterschaft der Antragsteller zu 1.); es befindet sich bisher auch kein sorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet. Der Stammberechtigte ist ferner im Besitz der gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 36a Abs. 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltserlaubnis. Seine Minderjährigkeit begründet zudem den humanitären Grund i.S.d. § 36a Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 2 Nr. 2 AufenthG. Darüber ist der humanitäre Grund des § 36a Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 2 Nr. 3 AufenthG erfüllt, da die Antragstellerin zu 1.) im syrischen Gouvernement Deir Ez-Zor lebt [...]; wobei humanitäre Gründe bereits dann vorliegen, wenn die Voraussetzungen auch nur eines der Regelbeispiele des § 36a Abs. 1 S. 2 Nr. 1-4 bzw. diejenigen eines unbenannten humanitären Grundes vorliegen [...].

20 Ausschlussgründe des § 36a Abs. 3 AufenthG sind nicht ersichtlich. Zwar ist die Erteilung des Visums in der Regel ausgeschlossen, wenn der Ausländer, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll, wegen bestimmter Straftaten rechtskräftig verurteilt wurde (§ 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG). Für das Vorliegen solcher Straftaten des Stammberechtigten bestehen aber keine Anhaltspunkte; die Darlegungs- und Beweislast obliegt insoweit der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen.

21 In diesem Zusammenhang ist dem Beigeladenen dahingehend zuzustimmen, dass der Nachweis der Straffreiheit mit einem aktuellen Auszug aus dem Bundeszentralregister (BZR) geführt werden kann. Entscheidend sind aber ebenso die in den Ausländer- und Asylakten ersichtlichen Informationen, sodass entgegen der Ansicht des Beigeladenen der BZR-Auszug nicht "streng benötigt" wird und nicht "stets ein aktueller BZR-Auszug des Stammberechtigten auszuwerten" ist (so aber Landesamt für Einwanderung, Verfahrenshinweise zum Aufenthalt in Berlin, Stand: 21.11.2023, Nr. 36.2.2a-d). Insoweit ist nach Ansicht der Kammer nämlich zu berücksichtigen, dass sämtliche Strafverfolgungsstellen zur Mitteilung über die Einleitung und den Ausgang des Verfahrens in Strafsachen gegen Schutzsuchende an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (§ 8 Abs. 1a AsylG, sowie Nr. 42a Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen – MiStra –) sowie über die Einleitung und den Ausgang des Verfahrens in Strafsachen gegen Ausländer an die zuständigen Ausländerbehörden § 87 Abs. 4 S. 1 AufenthG, sowie Nr. 42 Abs. 1, Abs. 6 MiStra) verpflichtet sind (so auch VG Berlin, Beschluss vom 28. Dezember 2023 – VG 35 L 341/23 V –, S. 6). Zwar mag es in Einzelfällen zu einem Unterlassen einer solchen Mitteilung kommen, dies erscheint aber mit zunehmender Schwere der Straftaten unwahrscheinlicher. Insofern ist zu berücksichtigen, dass gerade nur schwere Straftaten zu einem Eingreifen des Ausschlussgrundes führen können. So sind in 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG aufgeführt: Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten (lit. a]), Verteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bei einer bestimmten – besonders schweren – Art der Begehung (lit. b]), Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten, wenn die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist (lit. c]), Verurteilung wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz (lit. d]).

22 Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Stammberechtigten wegen einer solchen schweren Straftat verurteilt wurde, sind von der Antragsgegnerin und dem Beigeladenen nicht dargelegt [...]

23 b) Sind damit die allgemeinen und besonderen Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung des begehrten Visums an die Antragstellerin zu 1.) glaubhaft gemacht, ist das der Behörde in § 36a Abs. 1 AufenthG eingeräumte [...] und gerichtlich gemäß § 114 VwGO nur eingeschränkt überprüfbare Ermessen zunächst eröffnet, so dass die Behörde die Erteilung des Visums mit entsprechenden Erwägungen grundsätzlich auch in rechtmäßiger Weise ablehnen kann. Ein Anspruch auf Erteilung des Visums besteht jedoch ausnahmsweise bei einer sog. Ermessensreduktion "auf Null", also wenn keine andere Entscheidung als die Erteilung des Visums ermessensfehlerfrei getroffen werden kann.

24 So liegt der Fall hier. Zulässige Ermessenserwägungen, die im Rahmen der anzustellenden Abwägung der widerstreitenden Interessen die Ablehnung der Visumserteilung in dem vorliegenden Fall rechtfertigen könnten, haben Antragsgegnerin und Beigeladener weder vorgetragen, noch sind derartige Erwägungen ersichtlich. Beide haben zudem signalisiert, bei Vorlage eines BZR-Auszugs ohne relevante Eintragungen das Visum zu erteilen bzw. der Erteilung zuzustimmen. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass die Ausübung des individuellen Ermessens des § 36a Abs. 1 AufenthG durch den Umstand, dass nachfolgend eine Auswahlentscheidung nach bestimmten Kriterien vorzunehmen ist, eingeschränkt ist (dazu VG Berlin, Urteile vom 7. Januar 2022 – VG 38 K 380/21 V –, Asylmagazin 2022, 327, juris Rn. 33ff.; und vom 31. August 2023 – VG 24 K 55/23 V –, juris Rn. 48ff.).

25 c) Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstandes, dass wegen der baldigen Volljährigkeit des Stammberechtigten eine bloße Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Berücksichtigung des Visumsantrags bei der Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG möglicherweise leerlaufen würde, ist aufgrund der Umstände des Einzelfalles die Antragsgegnerin (unter Ersetzung der Zustimmung des Beigeladenen) zur vorläufigen Erteilung des Visums an die Antragstellerin zu 1.) zu verpflichten.

26 Maßgeblich war dabei, dass es zwar aus verschiedenen Gründen seit der Einreise des Stammberechtigten zu Zeitverzögerungen gekommen ist (z.B. Asylgesuch erst etwa fünf Monate nach Einreise, überlastungsbedingte Verzögerungen bei der Übersendung der Identitätsdokumente auf Seiten der Ausländerbehörde). Die letzte und schließlich maßgebliche Verzögerung ist aber auf das Bundesamt für Justiz, mithin eine Stelle der Antragsgegnerin, zurückzuführen. Dieses hat den bereits am 11. Dezember 2023 erbetenen Auszug aus dem Bundeszentralregister trotz Vollständigkeit der erforderlichen Angaben und Erinnerung am 19. Dezember 2023 bislang nicht übersandt.

27 II. Hingegen hat der Antrag auf Erteilung von Visa an die Antragteller zu 2.)-6.) keinen Erfolg. Für diese streitet bereits kein Anordnungsanspruch, da sie weder einen Anspruch auf die Erteilung eines Visums zum Nachzug zu ihrem stammberechtigten Bruder haben (dazu 1.), noch einen Anspruch auf die Erteilung eines Visums zum Nachzug zu und mit ihrer Mutter, der Antragstellerin zu 1.) (dazu 2.).

28 1. Ein Anspruch aus (§ 6 Abs. 3 S. 2 i.V.m.) § 36a Abs. 1 AufenthG auf Erteilung eines Visums zum Nachzug zu ihrem Bruder scheitert daran, dass Geschwisterkinder nicht zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis des Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten gehören. [...]