Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung für in Italien anerkannte Person:
1. Auch wenn eine Person nicht mehr mit ihren Kindern und dem anderen Elternteil zusammenlebt, kann bei der Beurteilung einer drohenden Verletzung von Art. 4 GR-Charta im Mitgliedstaat, der internationalen Schutz zuerkannt hat (hier: Italien), von einer gemeinsamen Ausreise dorthin auszugehen sein, wenn trotz der Trennung der Eltern von einem gemeinsamen Familienleben auszugehen ist.
2. Besucht die betroffene Person die Kinder mehrmals wöchentlich und übt die elterliche Sorge trotz Trennung mit dem anderen Elternteil gemeinsam aus, ist ein gemeinsames Familienleben anzunehmen.
3. Es ist davon auszugehen, dass die Familie ihren Lebensunterhalt nach Verlassen der ihnen voraussichtlich zunächst zur Verfügung stehenden Zweitaufnahmeeinrichtung ("SAI" - Sistema Accoglienza Integrazione) angesichts des Betreuungsbedarfs der drei Kinder und der Erkrankung des anderen Elternteils aus einem Gehalt bestreiten müsste. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Kläger vor diesem Hintergrund nach Verlassen der Zweitaufnahmeeinrichtung nicht in der Lage sein wird, eine adäquate Unterkunft für alle Familienangehörigen zu finanzieren.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 - asyl.net: M31148; siehe auch: OVG Thüringen, Beschluss vom 31.05.2023 - 2 ZKO 355/22 - asyl.net: M31664)
[...]
3. Nach den vorgenannten Erkenntnissen vor dem Hintergrund der den Kläger betreffenden Gesamtumstände im konkreten Fall droht ihm - insbesondere unter Berücksichtigung seiner Familie - im Fall der Rückkehr nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK dergestalt, dass er und seine Familie extremer materieller Not ausgesetzt sein würden.
a) Zunächst ist für die Rückkehrprognose zu Grunde zu legen, dass der Kläger mit seiner Ex-Partnerin, den beiden gemeinsamen Kindern (geb. 2017 und 2020) und seinem weiteren Sohn (geb. 2009) zusammen nach Italien zurückkehren würden, denn obwohl der Kläger keine partnerschaftliche Beziehung zu der Mutter seiner zwei Kinder mehr führt und derzeit nicht bei ihnen wohnt, bilden sie zur Überzeugung des Gerichts eine in familiärer Lebensgemeinschaft lebende Kernfamilie.
Für die Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist bei zwar notwendig hypothetischer, aber doch realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in einen anderen EU-Mitgliedstaat zurückkehrt, in dem der Ausländer als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter anerkannt ist (VGH Mannheim, Urteil vom 7. Juli 2022, Az.: A 4 S 3696/21, juris Rn. 33, 35 mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, Az.: 1 C 45.18, juris Rn. 17 ff.). [...] Für eine in diesem Sinne "gelebte" Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019, Az.: 1 C 45.18, juris Rn. 48).
Im Fall des Klägers besteht eine gelebte Kernfamilie und ist deshalb die Prognose anzustellen, dass er gemeinsam mit seinen Familienangehörigen nach Italien zurückkehren würde. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung das Familienleben gut nachvollziehbar, lebensnah und mit wesentlichen Details versehen sowie erkennbar ohne Steigerungen - also glaubhaft - im Kern wie folgt beschrieben: Er besuche seine Ex-Partnerin mit seinen beiden Kindern dreimal die Woche, wenn es notwendig sei auch vier bis fünfmal die Woche. Er unterstützte seine wegen Krankheit eingeschränkte Frau z. B. durch Einkaufengehen oder indem er sie zu Terminen begleite, wo er für sie dolmetsche, da er besser Deutsch spreche als sie. [...]
b) Das Gericht geht unter Berücksichtigung aktuellen Quellenlage davon aus, dass der Kläger einen Anspruch auf Unterbringung in einem Zentrum der SAI hat, dem keine unzumutbaren Hindernisse, insbesondere derzeit keine Kapazitätsengpässe, entgegenstehen. Dabei finden auch die Familienmitglieder des Klägers Berücksichtigung, und zwar unabhängig davon, ob die Familienmitglieder in Italien einen Schutzstatus innehaben oder sogar in anderen Mitgliedstaaten anerkannt sind. [...]
c) Vorliegend ergibt sich indes ein Verstoß gegen Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die dem Kläger und seiner Familie drohende Lage nach Erlöschen des Anspruchs auf Unterbringung in einer SAI-Einrichtung. [...]
Unter Berücksichtigung der Besonderheiten des vorliegenden Falles erkennt das Gericht indes Anhaltspunkte für das Vorliegen von Umständen, die im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Verlassen der gesicherten SAI-Unterkunft einen Verstoß gegen Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK mit entsprechend hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lassen. Generell ist bei der Rückkehr im Familienverbund auf das Existenzminimum aller Familienmitglieder abzustellen (VGH Mannheim, Urteil vom 7. Juli 2022, Az.: A 4 S 3696/21, juris Rn. 33). Bei vulnerablen Personen, wozu die drei minderjährigen Kinder und - auf Grund ihrer schweren Erkrankung - auch die Ex-Partnerin des Klägers zählen, ist zu berücksichtigen, dass sie einen anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf haben (VGH Mannheim, a.a.O. Rn. 40). Gerade im Zusammenhang mit Kindern ist im Vergleich zu jungen, gesunden und alleinstehenden Personen von einer "extremen Verletzlichkeit" auszugehen und davon, dass sie spezielle Bedürfnisse haben und eines besonderen Schutzes bedürfen, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu vermeiden [...].
Es ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Verlassen der SAI-Einrichtung hinsichtlich der Unterbringung und der Finanzierung seines Lebensunterhaltes für sich und seine Familie ganz auf sich allein gestellt sein wird. Wegen der Betreuung der drei Kinder ist bei lebensnaher Betrachtung anzunehmen, dass die ganze Familie ihre Lebenshaltungskosten, insbesondere die Miete und Kosten für Lebensmittel, aus einem Gehalt bestreiten müssen wird. Das Gericht erachtet es im hiesigen Fall als sehr bzw. hoch wahrscheinlich, dass der Kläger trotz unterstellter Eigeninitiative nach Verlassen der Zweitaufnahmeeinrichtung nicht in der Lage sein wird, eine adäquate Unterkunft - dazu zählen insbesondere nicht Behelfsunterkünfte ohne Strom und Wasser - für alle zurückkehrenden Familienmitglieder zu finanzieren. [...]