VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 03.08.2023 - 24 B 22.30821 - asyl.net: M31981
https://www.asyl.net/rsdb/m31981
Leitsatz:

Missachtung besonderer Verfahrensgarantien für unbegleitete Minderjährige bei Anerkannten unerheblich:

1. Bei der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig gemäß Art. 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen Zuerkennung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ist es unerheblich, ob dieser Mitgliedstaat die besonderen Garantien für unbegleitete minderjährige Geflüchtete gemäß der Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU], insbesondere Art. 25 Asylverfahrensrichtlinie, allgemein berücksichtigt und im zur Anerkennung führenden Verfahren berücksichtigt hat.

2. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Missachtung der besonderen Verfahrensgarantien für unbegleitete Minderjährige gleichzeitig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung entgegen Art. 4 GR-Charta bedeutet.

3. Hinsichtlich volljähriger, anerkannt schutzberechtigter Personen, die nach Italien zurückkehren sollen und erwerbsfähig sowie alleinstehend sind, ist nicht davon auszugehen, dass die Aufnahmebedingungen regelhaft Schwachstellen aufweisen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung von Art. 4 GR-Charta führen. Das gilt auch dann, wenn sie keinen Anspruch auf Unterbringung im Rahmen des Zweitaufnahmesystems "Sistema Asilo Integrazione" (SAI) haben.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich Ls. 3: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879; VG Braunschweig, Urteil vom 21.03.2023 - 7 A 446/19 - asyl.net: M31511)

Schlagwörter: minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Anerkannt, Verfahrensgarantien,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013/32/EU Art. 25,
Auszüge:

[...]

17 3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor. Dem Kläger wurde durch Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union subsidiärer Schutz und damit internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt; dies ergibt sich unmittelbar aus der Mitteilung der italienischen Behörden an das Bundesamt vom 21. Oktober 2022 (Bl. 39 GA: "he was granted a residence permit for 'Subsidiary'"). Da die italienischen Behörden damit erkennbar davon ausgehen, dass sie dem Kläger wirksam Schutz gewährt haben, kommt es nicht darauf an, ob etwa eine etwaige Missachtung von Vorschriften zum Minderjährigenschutz nach italienischem Verfahrensrecht Zustellungs- oder andere Wirksamkeitsmängel begründen könnte. [...]

18 4. Der Bescheid der Beklagten ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die italienischen Behörden nach Angaben des Klägers seine damalige (vom Bundesamt allerdings bezweifelte) Minderjährigkeit übergangen und infolgedessen die besonderen Garantien nach der Verfahrensrichtlinie (vgl. Art. 25) nicht beachtet haben sollen. Eine weitere Aufklärung, ob dies tatsächlich der Fall war, etwa durch Anforderung und Übersetzung der italienischen Verfahrensakten, war für den Senat nicht veranlasst.

19 a) Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie zählt abschließend die Konstellationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten dürfen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2020 – C-564/18 – juris Rn. 29 ff.). Zu diesen Situationen gehört die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat (Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie), es genügt insoweit die Gewährung von subsidiärem Schutz, auch wenn der Drittstaatenangehörige Flüchtlingsschutz erstrebt.

20 b) Es besteht kein Grund, die durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie bewirkte und gewollte Lockerung der andernfalls bestehenden Pflicht, Anträge auf Gewährung internationalen Schutzes inhaltlich zu prüfen, für den Fall der Minderjährigkeit eines Antragstellers generell zurückzunehmen und die Mitgliedstaaten für verpflichtet zu halten, zu prüfen, ob im jeweiligen asylrechtlichen Verfahren in Italien die besonderen Garantien für Minderjährige eingehalten worden sind.

21 aa) Schon der Wortlaut differenziert nicht zwischen Erwachsenen und Minderjährigen. Außerdem könnten andernfalls die mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie verfolgten Regelungszwecke bei minderjährigen Antragstellern von vornherein nicht erreicht werden. Weder würden Verwaltungsressourcen der Mitgliedsstaaten geschont (vgl. EG 36 Verfahrensrichtlinie) noch Sekundärmigrationsbewegungen verhindert [...]. Darüber hinaus wäre eine Bereichsausnahme für minderjährige Antragsteller nicht mit der grundlegenden Prämisse des Unionsrechts vereinbar, wonach jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt und deshalb das gegenseitige Vertrauen darauf besteht, dass das Unionsrecht – auch das Sekundärunionsrecht – wechselseitig beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 27 f.). [...]

Entsprechend kommt es nicht auf die verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit des konkreten Asylverfahrens an.

22 bb) Dieses Ergebnis harmoniert auch mit dem Konzept des Minderjährigenschutzes im Unionsasylrecht.[...] Die unionrechtskonforme Durchführung des konkreten Asylverfahrens ist für den Gerichtshof bislang keine Voraussetzung gewesen und kann es wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auch nicht sein. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, wenn auch nach einer positiven Entscheidung über den gestellten Asylantrag eines unbegleiteten Minderjährigen ein Wechsel der Zuständigkeit nicht mehr möglich ist, mithin bei erneuter Antragstellung eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie bzw. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG möglich bleibt.

23 c) Es besteht ferner kein Anlass, den Gedanken der Funktionsstörung, mit dessen Hilfe die Vermutung der Beachtung des Unionsrechts erschüttert werden kann, auf die vorliegende Fallgestaltung zu übertragen. Anerkannt ist, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich auf den Unzulässigkeitstatbestand des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie zu stützen, wenn systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen und es im Hinblick auf diese Schwachstellen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden [...]. Während Art. 4 GRCh ein absoluter Charakter zukommt, der eine Abweichung vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens rechtfertigen kann, ist dies bei anderen Grundrechten nicht der Fall. Deren Verletzung hindert eine Unzulässigkeitsentscheidung nicht. Ausdrücklich hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 7 und Art. 24 GRCh, die insbesondere den sekundärrechtlichen Minderjährigenschutz prägen, kein mit Art. 4 GRCh vergleichbarer absoluter Charakter beizumessen ist [...].

24 Infolgedessen könnten selbst systemische Schwachstellen im Bereich des verfahrensrechtlichen Minderjährigenschutzes in Italien – für die der Senat keine Anhaltspunkte hat – für die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nur relevant sein, wenn dadurch die Betroffenen zugleich im Sinne von Art. 4 GRCh unmenschlich oder erniedrigend behandelt worden sind. [...]

25 5. Der Unzulässigkeitsentscheidung gegenüber dem – inzwischen unstreitig volljährigen – Kläger steht vorliegend auch nicht Art. 4 GRCh deshalb entgegen, weil ihn bei Rückkehr Lebensverhältnisse erwarten würden, die für ihn mit der Gefahr verbunden wären, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden [...].

26 Für volljährige, anerkannt schutzberechtigte Personen, die nach Italien zurückkehren sollen und erwerbsfähig sowie alleinstehend sind, ist nach Rechtsprechung des Senats derzeit nicht davon auszugehen, dass die Aufnahmebedingungen in allgemeiner Hinsicht regelhaft Schwachstellen aufweisen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung von Art. 4 GRCh führen, auch wenn sie keinen Anspruch auf Unterbringung im Rahmen des Zweitaufnahmesystems "Sistema Asilo Integrazione" (SAI) haben. [...]