VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 21.03.2023 - 7 A 446/19 - asyl.net: M31511
https://www.asyl.net/rsdb/m31511
Leitsatz:

Anerkannten droht in Italien unmenschliche oder erniedrigende Behandlung:

1. Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Personen, denen in Italien internationaler Schutz zuerkannt wurde, bei ihrer Rückkehr nach Italien Obdachlosigkeit und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung entgegen Art. 4 GR-Charta droht.

2. Angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in Italien erscheint es zudem nahezu ausgeschlossen, dass der gesunde, alleinstehende Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG - asyl.net: M31478; OVG Saarland, Urteil vom 15.02.2022 - 2 A 46/21 - asyl.net: M30469; siehe auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Obdachlosigkeit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmeeinrichtung, Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Integration, Existenzgrundlage, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor. Die italienischen Behörden haben dem Bundesamt mit Schreiben vom 25. September 2018 mitgeteilt, dass dem Kläger in Italien mit Bescheid vom 11. Mai 2017 internationaler Schutz in Form subsidiären Schutzes zuerkannt wurde. [...]

Die Abschiebung des Klägers nach Italien ist gleichwohl rechtswidrig, weil die ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des Nichtvorliegens der Gefahr, im Zielstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt zu sein, nicht erfüllt ist. [...]

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ist indes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Abschiebung nach Italien obdachlos würde, was nach der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH, des BVerwG und des EGMR eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh darstellte. Zunächst droht dem Kläger die ernsthafte Gefahr, nicht unverzüglich nach der Überstellung einer angemessenen Unterkunft zugewiesen zu werden, da nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ein ernstzunehmendes Risiko besteht, dass Schutzberechtigte nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft eine angemessene Unterbringung erhalten, welches nicht durch die theoretische Möglichkeit, Unterstützung von karitativen Einrichtungen zu erhalten oder in Behelfssiedlungen unterzukommen, ausreichend abgemildert werden kann. Vielmehr kann weder für Dublin-Rückkehrer noch für anerkannt Schutzberechtigte angenommen werden, dass eine angemessene und unverzügliche Unterbringung sicher erfolgt. [...] Eine entsprechende Zusicherung der italienischen Behörden, den Kläger entsprechend angemessen in Italien unterzubringen, liegt nicht vor.

Angesichts der sich aus diesen Erkenntnissen und Informationen ergebenden derzeitigen Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in Italien ist es zudem beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in Italien keine Arbeit finden würde. Bei einer Arbeitslosenquote von ca. 10 %, einer mit 33,7 % deutlich darüber liegenden Jugendarbeitslosigkeit und der zurzeit (noch) herrschenden prekären Beschäftigungssituation im Dienstleistungs-, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, erscheint es nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in einem überschaubaren Zeitraum im Anschluss an eine Rückkehr nach Italien eine Arbeit findet, die es ihm gestattet, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. [...]