OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.04.2023 - 18 B 177/23 - asyl.net: M31976
https://www.asyl.net/rsdb/m31976
Leitsatz:

Keine Ermöglichung der Wiedereinreise bei wegen Reiseunfähigkeit rechtswidriger Abschiebung:

1. Ein Folgenbeseitigungsanspruch setzt voraus, dass durch eine rechtswidrige Abschiebung ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist. Beruht die Rechtswidrigkeit der Abschiebung auf einer Reiseunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen, ist das nur dann der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand unmittelbar durch die Abschiebung oder als unmittelbare Folge dieser wesentlich verschlechtert hat. Dies ist nicht der Fall, wenn sich der gesundheitliche Zustand unabhängig davon durch eine andere Erkrankung verschlechtert, die nicht mit der Reiseunfähigkeit bzw. der Abschiebung zusammenhängt.

2. Die gesundheitlichen Verschlechterungen wie etwa eine Suizidgefahr sind nur hinsichtlich des Vollzugs der Abschiebung und nur bezüglich des Zeitraums bis unmittelbar nach der Ankunft im Zielstaat in den Blick zu nehmen. Wenn zeitlich nachgelagerte Verschlechterungen eintreten, handelt es sich um zielstaatsbezogene Gefahren. Wenn ein Asylverfahren durchgeführt wurde, besteht eine Bindungswirkung an die Entscheidung des BAMF hinsichtlich dieser Gefahren.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.12.2022 - 12 S 2546/22 - asyl.net: M31237; OVG Sachsen, Beschluss vom 13.08.2021 - 3 B 277/21 (Asylmagazin 12/2021, S. 442 f.) - asyl.net: M29956; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.06.2017 - 11S 658/17 (ASYLMAGAZIN 7-8/2017, S. 305 f.) - asyl.net: M25204)

Schlagwörter: Abschiebung, Folgenbeseitigungsanspruch, Bindungswirkung, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 42
Auszüge:

[...]

Dieses hat zu Recht ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die beantragte Verpflichtung des Antragsgegners, im Wege einer einstweiligen Anordnung den Antragsteller in das Bundesgebiet zurückzuholen bzw. es ihm unverzüglich zu ermöglichen, auf Kosten des Antragsgegners in das Bundesgebiet einzureisen, nicht vorliegen. Diesbezüglich ist nicht glaubhaft gemacht, dass mit der wegen der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 18 B 104/14 –, juris, Rn. 4 f. m.w.N.) die Voraussetzungen eines entsprechenden (Folgenbeseitigungs-) Anspruchs gegeben wären.

Zwar war die am 8. November 2022 erfolgte Abschiebung des – zu diesem Zeitpunkt vollziehbar ausreisepflichtigen – Antragstellers rechtswidrig, weil sie vom Verwaltungsgericht – bestätigt durch den Senat – untersagt worden war (wegen Verstoßes des Antragsgegners gegen die Pflicht zur Klärung der Reisefähigkeit des Antragstellers) (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 8. November 2022 – 27 L 2380/22 –, juris, Rn. 7 bis 32; OVG NRW, Beschluss vom 8. November 2022 – 18 B 1197/22 –, juris, Rn. 2 bis 13). [...]

Ein Folgenbeseitigungsanspruch ist jedoch nicht gegeben. Denn dieser knüpft nicht allein an die Rechtswidrigkeit des staatlichen Eingriffsaktes in ein subjektives Recht an, sondern setzt zudem voraus, dass dadurch ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 2010 – 1 B 13.10 –, juris, Rn. 3; OVG NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 18 B 104/14 –, juris, Rn. 8 bis 11).

An einem durch die Abschiebung verursachten, andauernden rechtswidrigen Zustand fehlt es hier.

Ein Folgenbeseitigungsanspruch im Anschluss an eine rechtswidrige Abschiebung wegen (möglicher) Reiseunfähigkeit ist nur dann gegeben, wenn sich die der Annahme der Reiseunfähigkeit zugrundeliegende  Gefahr tatsächlich realisiert hat, der Gesundheitszustand des Ausländers sich also unmittelbar durch die Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon wesentlich verschlechtert hat und diese Verschlechterung im Entscheidungszeitpunkt fortdauert. Ein Folgenbeseitigungsanspruch kann nur in Betracht kommen, wenn eine abschiebungsbedingte erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes in einem unmittelbaren zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Abschiebungsvorgang eingetreten ist und weiterhin andauert (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 18 B 104/14 –, juris, Rn. 10 f.; Bay. VGH, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 19 CE 21.708 –, juris, Rn. 12; OVG Bremen, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – 2 B 435/21 –, juris, Rn. 10.

Dies ist beispielsweise nicht der Fall, wenn die Rechtswidrigkeit der Abschiebung auf (möglicher) Reiseunfähigkeit beruht, der rechtswidrige bzw. gesundheitliche Zustand hingegen unabhängig davon auf einer Erkrankung, die mit der Reiseunfähigkeit bzw. mit der Abschiebung nichts zu tun hat. [...]

Es kann offen bleiben, ob glaubhaft gemacht ist, dass der jetzige psychische Zustand des Antragstellers dergestalt ist, dass wegen Reiseunfähigkeit zum Schutz von Leben und Gesundheit von einer Abschiebung abzusehen wäre. Denn es ist bereits nicht – mit der gebotenen hohen Wahrscheinlichkeit – davon auszugehen bzw. glaubhaft gemacht, dass der Gesundheitszustand des Antragstellers sich durch den Vorgang der Abschiebung in einem Zeitraum bis unmittelbar nach deren Beendigung wesentlich verschlechtert hat.

Hinsichtlich der Frage einer fortdauernden Rechtswidrigkeit des Aufenthalts des Antragstellers in der Demokratischen Republik Kongo sind seine (geltend gemachten) Erkrankungen und konkret zu befürchtenden gesundheitlichen Verschlechterungen sowie eine etwaige Suizidgefahr, wie aufgezeigt, nämlich nur hinsichtlich des Vollzugs der Abschiebung und bezüglich des Zeitraums bis unmittelbar nach der Ankunft im Zielstaat und eines etwaigen unmittelbaren Übergangs in eine gebotene (medizinische) Versorgung in den Blick zu nehmen.

Soweit demgegenüber erst zeitlich nachfolgend Verschlechterungen des Gesundheitszustands eintreten, handelt es sich um zielstaatsbezogene Gefahren und Folgen der Abschiebung. Hinsichtlich dieser besteht, wenn wie hier ein Asylverfahren durchgeführt worden ist, gemäß § 42 Satz 1 AsylG eine Bindung des Antragsgegners an die Entscheidung des insoweit gemäß § 24 Abs. 2 AsylG zuständigen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, hier an dessen bestandskräftigen Bescheid vom 14. April 2021, mit dem es den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 20. August 2018 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. September 2022 - 2 A 2457/21.A -).

Schließlich begründet auch der medizinische Bericht des Neuropsychiaters Dr. … vom ... 2023, der nach den Angaben in der Beschwerdebegründung auf dortigen Terminen des Antragstellers vom ... und ... 2023 beruhte, nicht das Vorliegen eines rechtswidrigen Zustands in Folge der Abschiebung. Soweit es darin heißt, bei dem Antragsteller liege ein schwer depressiver Zustand vor, er habe Suizidgedanken mit Selbstverletzungsreaktionen, habe negative Gedanken und sei gestresst, leide an Schlaflosigkeit und sei abgemagert, führt dies nicht auf einen durch die Abschiebung verursachten, seit dieser fortdauernden rechtswidrigen Zustand. Dr. ... hat insoweit u. a. ausgeführt, die bereits in Deutschland diagnostizierte Angst und Depression sei durch die Abschiebung und die sehr ärmlichen prekären Lebensumstände des Antragstellers verschärft worden. Seit etwa einem Monat lebe der Antragsteller bei einer Gastfamilie. Diese berichte, dass der Antragsteller ein ruhiger, sehr depressiver Mensch sei, der Selbstmordgedanken habe (er habe versucht, sich zu erhängen) und sich einmal mit einem Messer "verstümmelt" habe. Unabhängig von der Frage, wer aus dieser Familie, die den Antragsteller aufgenommen hat, den angegebenen Selbstmordversuch bzw. die Verletzungen mit dem Messer wann gesehen und dem Neuropsychiater dann darüber berichtet hat, lag schon zu dem – nicht näher bestimmten – Zeitpunkt dieser mitgeteilten Vorfälle aufgrund des zeitlichen Abstands von jedenfalls mehr als zwei Monaten zu der am 9. November 2022 erfolgten Ankunft des Antragstellers in Kinshasa nicht mehr ein Zustand im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung vor, sondern ein zielstaatsbezogenes Verhalten bzw. Zustand. Dies gilt erst recht für den Zeitpunkt der nachfolgenden Termine des Antragstellers bei Dr. … am ... und ... 2023, die jeweils mehr als drei Monate nach der Abschiebung stattfanden. [...]

Zwar ist Zweck und Folge der Abschiebung, dass der Betreffende sich (wieder) im Heimatland befindet. Das macht die damit verbundenen Erschwernisse aber nicht zu "unmittelbaren Folgen der Abschiebung". Die Gefahren, die dem Ausländer aufgrund des Aufenthalts bzw. im Zusammenhang mit dem Aufenthalt im Zielstaat der Abschiebung drohen, sind vielmehr zielstaatsbezogen, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Dezember 2010 – 18 B 1599/10 –, juris, Rn. 15 bis 19 m. w. N., und vom 22. Oktober 2014 – 18 B 104/14 –, juris, Rn. 16 bis 18; s. auch BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 – 1 C 1.02 –, juris, Rn. 10; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 6. Dezember 2022 – 12 S 2546/22 –, juris, Rn. 13 bis 16; Bay. VGH, Beschluss vom 27. Mai 2021 – 19 CE 21.708 –, juris, Rn. 12; OVG Sachs.-A., Beschluss vom 21. Juni 2016 – 2 M 16/16 –, juris, Rn. 4). [...]