Verpflichtung zur Ermöglichung der Wiedereinreise einer nach Georgien abgeschobenen Familie:
1. Aus dem Grundsatz der Gesetz- und Rechtmäßigkeit der Verwaltung kann sich ein Folgenbeseitigungsanspruch ergeben, wenn durch den Vollzug der Abschiebung ein subjektives Recht der Betroffenen verletzt ist, in dessen Folge ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist (vorliegend bejaht).
2. Ein Anspruch auf Duldung für die Dauer eines aufenthaltsrechtlichen Verfahrens kommt zur Sicherung des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG dann in Betracht, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, einer möglicherweise begünstigten Person zugutekommt.
3. Hierzu zählt auch § 25a AufenthG, der unter anderem einen vorherigen vierjährigen erfolgreichen Schulbesuch voraussetzt. Das gesetzgeberische Ziel einer bestmöglichen Integration würde konterkariert werden, wenn die Betroffenen gezwungen wären, ein möglicherweise mehrjähriges Visumsverfahren vom Ausland aus zu betreiben.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
19 Aus dem Grundsatz der Gesetz- und Rechtmäßigkeit der Verwaltung kann sich ein Folgenbeseitigungsanspruch ergeben, wenn durch den Vollzug der Vollstreckungsmaßnahme, hier die Abschiebung der Antragsteller, ein subjektives Recht des Betroffenen verletzt ist, in dessen Folge ein andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist (SächsOVG, Beschl. v. 5. Februar 2020 - 3 B 335/19 -, juris Rn. 7 m. w. N.). [...]
21 Die Abschiebung der Antragsteller war rechtswidrig, da den Antragstellern zu 3 und 4 nach der zum Zeitpunkt der Abschiebung für das Gericht ersichtlichen Sach- und Rechtslage ein Anspruch auf eine verfahrensbezogene Duldung zugestanden haben dürfte. Es war nämlich nicht offensichtlich auszuschließen, dass ihnen ein mit ihren beim Antragsgegner zu 1 gestellten Anträgen auch geltend gemachter Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zustand (2), und, dass die übrigen Antragsteller Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG hatten (3). Damit entstand durch die Abschiebung ein andauernder rechtswidriger Zustand, der den Antragstellern im Wege der Folgenbeseitigung eine Wiedereinreise ermöglicht. Den Antragstellern sind nach ihrer Wiedereinreise erneut Duldungen auszustellen bzw. es sind die ihnen erteilten Duldungen zu verlängern (5). [...]
27 (2) Allerdings stand den Antragstellern zu 3 und 4 nach der Sach- und Rechtslage zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt, der Durchführung der Abschiebung am 10. Juni 2021, wohl ein Anspruch auf Erteilung einer verfahrensbezogenen Duldung zu.
28 (a) Die Antragsgegner gehen mit ihrer Auffassung fehl, dass den Antragstellern zu 3 und 4 schon kein Anspruch zustand, die rechtskräftige Entscheidung über ihre Anträge auf Gewährung eines Aufenthaltstitels im Inland abwarten zu dürfen.
29 Grundsätzlich scheidet zwar aus gesetzessystematischen Gründen die Erteilung einer Duldung für die Dauer des Verfahrens auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus. Der Gesetzgeber hat durch die Vorschrift des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zum Ausdruck gebracht, dass er nur in den Fällen, in denen ein Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt, ein Bleiberecht bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde zugesteht (SächsOVG, Beschl. v. 3. November 2020 - 3 B 262/20 -, juris Rn. 14, Beschl. v. 8. Oktober 2020 - 3 B 186/20 -, juris Rn. 11, und Beschl. v. 24. Februar 2020 - 3 B 349/19 -, juris Rn. 7; OVG NRW, Beschl. v. 11. Januar 2016 - 17 B 890/15 -, juris Rn. 6; OVG LSA, Beschl. v. 14. Oktober 2009 - 2 M 142/09 -, juris Rn. 8; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28. Februar 2006 - OVG 7 S 65.05 -, juris Rn. 5). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, da die Antragsteller noch nie im Besitz eines Aufenthaltstitels waren und schon aus diesem Grund die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht zu ihren Gunsten eingreifen konnte.
30 Eine Ausnahme kommt zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG jedoch auch in Betracht, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung - die jeweils einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt - einem möglicherweise Begünstigten zugutekommt (OVG NRW, a.a.O. Rn. 9). Dies ist etwa anzunehmen bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, soweit § 39 AufenthV die Einholung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet ermöglicht (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 5. Dezember 2011 - 18 B 910/11 -, juris Rn. 10) oder unter Umständen auch, wenn die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gegeben sind (SächsOVG, Beschl. v. 3. November 2020 a.a.O., und Beschl. v. 8. Oktober 2020 a.a.O.; Beschl. v. 16. März 2021 - 3 B 93/21 -, juris Rn. 12).
31 Zu diesen Regelungen gehört auch der Aufenthaltstitel nach § 25a Abs. 1 AufenthG, der eine Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsen-den festlegt. Der Aufenthaltstitel setzt unter anderem einen in der Regel seit vier Jahren erfolgreichen Besuch einer Schule voraus (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Die Voraussetzung, die einen Beleg für eine gute Integration darstellt, würde ins Leere laufen, wenn dem Jugendlichen oder Heranwachsenden zugemutet werden würde, die sich möglicherweise über mehrere Jahre hinziehende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom Ausland aus betreiben zu müssen. Damit würde das gesetzgeberische Ziel, dem Jugendlichen oder Heranwachsenden eine Schulkarriere im Bundesgebiet und damit eine bestmögliche Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse zu ermöglichen, geradezu in sein Gegenteil verkehrt werden (in diesem Sinn auch OVG Lüneburg, Beschl. v. 21. Februar 2018 - 13 ME 56/18 -, juris Rn. 4). [...]
34 Die hiernach erforderlichen Voraussetzungen dürften bei den Antragstellern zu 3 und zu 4 zum damaligen Zeitpunkt vorgelegen haben. [...]
In der Zwischenzeit stand ihnen zumindest wohl ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung zu (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18. Dezember 2019 - 1 C 34.18 -, juris Rn. 24; SächsOVG, Beschl. v. 15. Dezember 2020 - 3 B 201/20 -, juris Rn. 24). Ihren Eltern waren ausweislich der Behördenakte am 2. März 2021 letztmals bis zum 2. September 2021 aus sonstigen Gründen Duldungen erteilt worden. [...] Jedenfalls stand ihrer Abschiebung zu diesem Zeitpunkt entgegen, dass die Antragsteller zu 3 und 4 unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Familie gemäß Art. 6 GG nicht von ihren Eltern getrennt werden durften und ihnen schon aus diesem Grund ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Seite stand. [...]
38 Insbesondere dürfte der Erteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 25a AufenthG an die Antragsteller zu 3 und 4 nicht entgegengestanden haben, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Abschiebung möglicherweise noch nicht über einen Reisepass gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG verfügten. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für den Passbesitz ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über den Antrag bzw. im Fall des Rechtsstreits der Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz, nicht aber der Zeitpunkt der Antragstellung (Funke-Kayser, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz a.a.O. § 5 Rn. 94 ff. m.w.N.). Davon, dass bis zu diesem Zeitpunkt die Reisepässe der Antragsteller zu 3 und 4 vorliegen würden, ist auszugehen. [...]
40 (3) Den Antragstellern zu 1 und 2 und 5 bis 9 stand zwar wohl kein Anspruch auf Erteilung einer verfahrensbezogenen Duldung in Hinblick auf die von ihnen begehrten Aufenthaltstitel gemäß § 25b oder 25a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu (a, b). Allerdings dürften sie Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gehabt haben (c). [...]
47 (c) Allerdings hatten die Antragsteller zu 1 und 2 sowie zu 5 bis 9 zum Zeitpunkt ihrer Abschiebung wohl Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. [...]
50 Nach diesen Grundsätzen steht den vorgenannten Antragstellern ein Anspruch auf Aussetzung ihrer Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu. Alle Antragsteller führen eine familiäre Lebensgemeinschaft. Obwohl - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - den Antragstellern zu 3 und 4 ein Anspruch auf Erteilung eines Titels gemäß § 25a AufenthG zustehen dürfte, wären sie bei Abschiebung ihrer restlichen Familie gezwungen gewesen, ihre schulische Karriere ohne ihre Eltern, die Antragsteller zu 1 und 2, in Deutschland weiterzuführen. Eine solche Situation wäre für sie unzumutbar. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die beiden elf- und zehnjährigen Kinder ohne die familiäre Unterstützung nicht in der Lage wären, allein im Bundesgebiet zu leben. Verwandte, die die Antragsteller hätten aufnehmen können, sind nicht bekannt. Daher waren und sind sie zwingend auf die elterliche Unterstützung und Fürsorge angewiesen, wenn sie das aus § 25a AufenthG folgende Bleiberecht in Anspruch nehmen wollen. Nichts Anderes gilt für die Antragsteller zu 5 bis 9. Diese Antragsteller sind alle unter zehn Jahre alt. Die Trennung von ihren Eltern würde gegen den Schutz der Familie aus Art. 6 GG verstoßen. Die Rückkehr in ihr Heimatland ohne sie wäre ihnen ersichtlich nicht zumutbar. [...]