OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 28.09.2023 - 4 LB 102/20 (Asylmagazin 12/2023, S. 441 f.) - asyl.net: M31941
https://www.asyl.net/rsdb/m31941
Leitsatz:

Zum maßgeblichen Zeitpunkt des erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens:

"Ein Zweitantrag i.S.d. § 71a AsylG liegt vor, wenn ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren zum Zeitpunkt der Antragstellung im Bundesgebiet bereits rechtskräftig abgeschlossen ist."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Zweitantrag, Unzulässigkeit, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: AsylG § 71a, AsylG § 71, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 27, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

b. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

aa. Die Voraussetzungen einer Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 71a AsylG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG liegen nicht vor. [...]

Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist (BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 29).

Gemessen daran sind die Voraussetzungen für die Behandlung des Asylantrags des Klägers als Zweitantrag i.S.d. § 71a Abs. 1 hier nicht gegeben.

Es fehlt am Vorliegen eines erfolglos abgeschlossenen Asylverfahren i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG.

Zwar lässt sich der Mitteilung der französischen Behörden vom 6. März 2018 entnehmen, dass die ablehnende Entscheidung über den Asylantrag des Klägers vom 25. November 2015 mit der Zurückweisung des eingelegten Rechtsmittels durch den Cour nationale du droit d'asile (CNDA) am 16. Februar 2017 rechtskräftig geworden ist. Der erfolglose Verfahrensabschluss lag jedoch noch nicht zum Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland am 20. Juni 2016, der für die Beurteilung des Vorliegens eines Zweitantrags im Sinne des § 71A Abs. 1 AsylG maßgeblich ist, vor.

(1) Auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung der Frage abzustellen ist, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG erfolglos abgeschlossen ist, hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung bislang ausdrücklich offengelassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 -, juris, Rn. 40). Insoweit kämen in erster Linie der Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland und der Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs in Betracht (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 40). Das Verwaltungsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung demgegenüber auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamts abgestellt.

(2) Nach Auffassung des Senats ist bei der Beurteilung der Frage, ob ein in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführtes Asylverfahren erfolglos abgeschlossen ist, auf den Zeitpunkt des Asylantrags in Deutschland abzustellen und nicht auf (irgend-) einen späteren Zeitpunkt. [...]

aa. § 71a Abs. 1 AsylG ist dahin auszulegen, dass ein Zweitantrag nur vorliegt, wenn ein in einem sicheren Drittstaat geführtes Asylverfahren zum Zeitpunkt der Asylantragsstellung im Bundesgebiet bereits rechtskräftig abgeschlossen war [...]. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm. Denn § 71a Abs. 1 AsylG befasst sich mit Asylanträgen, die der Ausländer "nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens" in einem sicheren Drittstaat "stellt". [...]

Die Systematik der Norm bestätigt das aufgezeigte Begriffsverständnis. Denn § 71a AsylG wird in "Abschnitt 7 Folgeantrag, Zweitantrag" des Asylgesetzes unmittelbar nach der Regelung für Folgeanträge in § 71 AsylG aufgeführt und trifft eine dieser Regelung entsprechende Bestimmung für frühere Asylverfahren, die nicht im Bundesgebiet geführt worden sind. [...]

bb. Die in Ziffer 1 des Bescheids der Beklagten vom 12. April 2018 getroffene Unzulässigkeitsentscheidung kann nicht auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten bleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 21). [...]

3. Eine Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Rechtssachen C-123/23 und C-202/23 (Vorlagebeschlüsse des VG Minden vom 28.10.2022 - 1 K 1829/21.A - und - 1 K 4316/21.A -) ist vorliegend nicht geboten. Da nach den vorgenannten Ausführungen bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a AsylG nicht vorliegen, ist es unerheblich, ob die Unzulässigkeitsentscheidung und die damit im Zusammenhang stehende Abschiebungsandrohung auch deshalb aufzuheben sind, weil § 71a Abs. 1 AsylG nicht mit Unionsrecht zu vereinbaren wäre und folglich unangewendet bleiben müsste. [...]