VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 26.06.2023 - 11 A 6073/21 - asyl.net: M31897
https://www.asyl.net/rsdb/m31897
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für zwangsverheiratete Frau aus Gambia:

1. Eine Zwangsheirat stellt eine schwerwiegende Verletzung der Freiheit der Eheschließung und damit eine geschlechtsspezifische Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar.

2. Eine Frau, die in Gambia zwangsverheiratet wurde, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie vorverfolgt ausgereist. Ferner droht der Betroffenen bei einer Rückkehr nach Gambia erneute, auch sexualisierte, Gewalt durch ihren Ehemann, sodass ihr auch deshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist,

3. Der gambische Staat ist nicht willens und in der Lage, Schutz vor geschlechtsspezifischer Verfolgung, insbesondere Zwangsheiraten, zu bieten.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Stuttgart, Urteil vom 03.11.2020 - A 2 K 10762/18 - asyl.net: M29115; siehe auch: VG Freiburg, Urteil vom 24.06.2020 - A 15 K 6731/12 - asyl.net: M29118)

Schlagwörter: Gambia, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Genitalverstümmelung, Zwangsehe,
Normen: AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin ist als vorverfolgt einzustufen. Es liegt eine Verfolgungshandlung durch den Ehemann und den … der Klägerin vor. Nach dem in § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG genannten Kumulationsansatz sind auch Handlungen, welche auf mehreren unterschiedliche Maßnahmen basieren und so gravierend sind, dass eine Person von ihnen in ähnlicher Weise wie von einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung betroffen ist, als eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 3 EMRK zu beurteilen. [...]

Die Klägerin wurde in [...] jungem Alter in ihrem Herkunftsland von ihrem ... zwangsverheiratet. Sie wurde in der Ehe mehrfach vergewaltigt. Diese Angabe der Klägerin hat das Bundesamt als glaubhaft eingestuft. Das Gericht folgt dieser Einschätzung. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung emotional und ohne Abweichungen zu dem Inhalt der in der Anhörung beim Bundesamt getätigten Aussagen die Umstände der Zwangsverheiratung und den Vergewaltigungen dargelegt. Vor allem, wenn sie nicht den Vorgaben des Ehemanns entsprochen hätte, sei sie zur Strafe vergewaltigt worden, mehrfach auch im minderjährigen Alter. Die Klägerin ist mehrfach beim Vortrag zusammengebrochen, sodass die mündliche Verhandlung unterbrochen werden musste. Dies spricht dafür, dass sie eigene Erlebnisse geschildert hat. Laut ärztlicher Bescheinigung des medizinischen Versorgungszentrums ... vom … 2021 liegt bei der Klägerin erwiesenermaßen eine Genitalverstümmelung des Typ II vor. Damit ist auch medizinisch der Vortrag der Klägerin zumindest indizhaft unterstützt.

Eine Zwangsheirat ist eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten, die in Deutschland nach § 237 StGB bestraft wird und gegen internationale Konventionen verstößt. Die Freiheit der Eheschließung ist in Art. 12 EMRK, Art. 9 GR-Charta und Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung garantiert. Bei einer Rückkehr drohen der Klägerin Gewalt und Vergewaltigung. Zudem ist eine ernstliche Gefahr starker Gewalt durch ihren Ehemann anzunehmen. Eine Vergewaltigung stellt in jedem Fall eine erniedrigende Behandlung und eine Bedrohung für Leib und Leben dar. Sexuelle Gewalt begründet stets eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Einzelnen und stellt daher eine schwerwiegende Menschenrechtsverle1zung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar. Es handelt sich dabei um eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG. Der geschlechtsspezifische Charakter der Verfolgung ergibt sich vorliegend daraus, dass das als regelwidrig angesehene Verhalten der Klägerin auf der Zwangsheirat basiert, in welche sie von ihrem ... gezwungen wurde.

Zwangsverheiratungen treffen dabei als besondere Art der Diskriminierung allgemein lediglich Frauen.

Die Bedrohung durch den ... der Klägerin stellt eine Verfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur nach § 3c Nr. 3 AsylG dar, worunter auch Familienmitglieder fallen. Der Staat ist nicht willens, Schutz nach § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu gewähren und es besteht keine inländische Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG. Das Gericht folgt der Einschätzung des Verwaltungsgerichts Stuttgart (vgl. Urteil vom 14. Dezember 2016 - A 2 K 1026/16 -, juris):

"Auch ist es erwiesen, dass der gambische Staat nicht in der Lage ist, Schutz vor der Bedrohung durch die Familie zu bieten. Der gambische Staat, insbesondere die gambische Justiz, dulden die Diskriminierung von Frauen (vgl. BFA, a.a.O.). Im Jahr 2010 stellte das Auswärtige Amt bereits fest, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Konflikte, die auf Zwangsverheiratungen beruhen, als private und innerfamiliäre Probleme betrachtet und ein Einschreiten insoweit zumeist verweigern (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 81). [...]" [...]