Flüchtlingsanerkennung für vor Zwangsverheiratung geflüchtete Frau aus Gambia:
1. Eine Zwangsverheiratung stellt eine geschlechtsspezifische Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar.
2. Der gambische Staat ist nicht willens oder in der Lage, betroffene Frauen vor einer Zwangsverheiratung zu schützen.
3. Bei einer Verfolgung durch die Familie besteht in Gambia kein interner Schutz nach § 3e AsylG, da Personen, die dorthin abgeschoben werden, von den Einwanderungsbehörden an ihre Familie übergeben werden. Zudem erregen alleinerziehende Frauen außerhalb des Familienverbands in Gambia Aufmerksamkeit, so dass sie damit rechnen müssen, von ihren Familien gefunden zu werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 3 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn diese allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (VG Hannover, Urteil vom 03. März 2020 - 7 A 1787/20 - juris, Rn. 35). Bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen wird schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe i.S.v. § 3b AsylG indiziert. Eine drohende Zwangsheirat im Herkunftsland erfüllt den Tatbestand einer an das Geschlecht anknüpfenden Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit und Freiheit (NK-AuslR/Stefan Keßler, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 3a Rn. 19). Gleiches gilt für Frauen mit unehelichen Kindern.
Bei einer Zwangsverheiratung liegt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG vor. Danach können unter anderem Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG sein. Infolge einer Zwangsheirat wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt und als "verkaufbare" Sache be- und gehandelt. Eine Zwangsheirat ist eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten, die in Deutschland nach § 237 StGB bestraft wird und gegen internationale Konventionen verstößt. Die Freiheit der Eheschließung ist in Art. 12 EMRK, Art. 9 GR-Charta und Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung garantiert. Zudem droht einer von einer Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt und im Falle der Verweigerung der Zwangsheirat oder der Flucht aus dieser physische Gewalt (VG Hannover, Urteil vom 03. März 2020 - 7 A 1787/20 - juris, Rn. 34). Ebenso stellt die Bedrohung des Lebens wegen eines unehelichen Kindes eine Handlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Wird eine Frau an Leib oder Leben bedroht, weil sie geschlechtsspezifische Regeln verletzt und damit die Ehre der Familie "beschmutzt" hat ("Ehrenmorde"), und wird ihr hiergegen staatlicher Schutz versagt, ist dies eine relevante Verfolgungshandlung (NK-AuslR/Stefan Keßler, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 3a Rn. 19). [...]
Gemessen an diesen Kriterien ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Heimatlandes. Die Klägerin wird im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsyfG verfolgt, die aufgrund des Stammes- und Gewohnheitsrechtes innerhalb der Volksgruppe der Wolof und der islamischen Tradition zwangsverheiratet werden können und die Bestrafung wegen des nichtehelichen Kindes erleiden könnten, da nur Frauen hiervon betroffen sind. Die geschilderten Verfolgungshandlungen knüpfen gezielt an das weibliche Geschlecht an.
Es kann offen bleiben, ob die Klägerin sich auf Vorverfolgung aufgrund der in frühester Kindheit erlittenen weiblichen Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische Vorverfolgung mit der Vermutungswirkung des Art. 4 Abs. 4 QRL berufen kann, da die Genitalverstümmelung in keinem Zusammenhang mit den aktuell geltend gemachten Verfolgungsgründen steht. Jedenfalls steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin nunmehr bei einer Rückkehr nach Gambia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung gem. §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgrund der geplanten Zwangsverheiratung mit ihrem Cousin und des Weiteren Gefahr für Leib oder Leben wegen ihrer außerehelichen Beziehung in Deutschland und ihrer unehelichen Tochter droht. [...]
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Gambia alsbald die bereits dargestellte geschlechtsspezifische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Die Klägerin ist Mutter eines nichtehelich geborenen Kindes und darüber hinaus ihrem Cousin als Ehefrau versprochen. Jener habe für die arrangierte Ehe bereits das Brautgeld entrichtet. Nach der glaubhaften Schilderung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung werde ihr Vater von dem ihr zugedachten Ehemann sehr unter Druck gesetzt, da der Vater das Geld ohne entsprechende zeitnahe Gegenleistung schon erhalten habe. Nachvollziehbar führte sie auch aus, dass der Cousin sie nach wie vor heiraten würde, auch wenn sie zwischenzeitlich eine uneheliche Beziehung geführt habe, aus der eine Tochter hervorgegangen ist. Hintergrund hierfür sei, dass er für sie bereits einen hohen Brautpreis bezahlt und den Betrag auch nicht mehr von ihrem Vater zurückerhalten habe. Es sind auch keine Gründe dafür ersichtlich, dass der Vater der Klägerin nunmehr nicht mehr auf der Heirat der Tochter mit dem Cousin bestehen würde, zumal er wegen der Vereinnahmung des Brautpreises derzeit als unehrenhaft angesehen werde. Der Vortrag der Klägerin, dass sie wegen ihrer unehelichen Tochter von ihrer islamischen Verwandtschaft und dem Vater als große Sünderin angesehen werde, schon jetzt von jenen verdammt werde und deshalb bei einer Rückkehr nach Gambia Schwierigkeiten fürchten müsse, wirkte vor dem Hintergrund ihrer detailreichen Schilderungen des familiären Umfeldes und der islamischen Tradition, in der die Familienehre eine entscheidende Rolle spiele, plausibel und nachvollziehbar. Auch deshalb ist eine geschlechtsspezifisehe Verfolgung der Klägerin beachtlich wahrscheinlich.
Die Verfolgung geht von nichtstaatlichen Akteuren aus, ohne dass der Staat, Parteien, Organisationen oder internationale Organisationen bereit und in der Lage sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, §§ 3c und 3d AsylG. Zwar sind Frauen und Männer gemäß Art. 28 der gambischen Verfassung gleichberechtigt, jedoch erfährt dieser Grundsatz durch Gesetzgebung, religiöse Traditionen und allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse Einschränkungen. Art 33 der Verfassung der Republik Gambia lässt die Diskriminierung in so zentralen Bereichen wie Adoption, Heirat, Scheidung und Erbe zu; er nimmt zudem Stammes- und Gewohnheitsrecht vom Schutz vor Diskriminierung aus. Dadurch gilt in Gambia für bestimmte Volksgruppen beispielsweise Scharia-Recht (vgl. Auswärtige? Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 05.08.2019, Stand: Juli 2019, Seite 6), wonach beispielsweise Ehebruch und Unzucht oder außerehelicher, ohne Zwang ausgeübter Geschlechtsverkehr von mündigen, geistig gesunden Verheirateten oder Unverheirateten, vom Koran als Kapitalverbrechen benannt werden. So kommt die Scharia bei Familienangelegenheiten - darunter muslimische Eheschließung, Scheidung und Erbschaft - zur Anwendung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gambia, vom 27.05.2015, Seite 15), Somit sind Frauen auch hinsichtlich der Anzahl der erlaubten Ehepartner benachteiligt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia vom 05.08.2019, Stand: Juli 2019, Seite 6). Weiter werden Frauen in Gambia zum Opfer der Tradition, wie z. B. Vergewaltigung in der Ehe oder Zwangsheirat (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gambia, vom 27.05.2015, Seite 14). Die Zwangsheirat ist nicht gesetzlich verboten (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gambia, vom 27.05.2015, Seite 15).
Eine inländische FIuchtalternative im Sinne des § 3e AsylG ist nicht ersichtlich. Staatliche Einrichtungen zur Aufnahme von Rückkehrerinnen und Rückkehrern existieren nicht. Rückkehrer werden in der Regel wieder von ihrer (Groß-) Familie aufgenommen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gambia, Gesamtaktualisierung am 2.10.2018, letzte Information eingefügt am 24.3.2020, Seite 24). So werden abgeschobene Personen von der Einwanderungsbehörde in Empfang genommen, kurz vernommen bzw. deren Daten aufgenommen und danach den Familien übergeben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gambia, vom 27.5.2015, Seite 1), was für die Klägerin bedeuten würde, dass sie in ihre Herkunftsfamilie, von der gerade die Verfolgungsgefahr ausgeht, zurückkehren würde. Nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass sie sich niemals von ihrem Kind trennen würde, als alleinerziehende Mutter im überwiegend islamischen Kulturkreis damit allerdings erhebliche Aufmerksamkeit erregen würde, ist in einem relativ kleinen Land wie Gambia auch nicht davon auszugeben, dass sie von ihrer Familie nicht aufgespürt werden würde, wenn sie nach ihrer Rückkehr nach Gambia zunächst keinerlei Kontakt zu ihrer Familie hätte. Damit ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]