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VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 17.08.2023 - M 28 E 23.31592 - asyl.net: M31867
https://www.asyl.net/rsdb/m31867
Leitsatz:

Kein Flughafenverfahren bei Vorliegen eines echten Personaldokuments zum Zeitpunkt des Schutzersuchens:

1. Das Flughafenverfahren gemäß § 18a Abs. 1 S. 2 AsylG ist nicht durchzuführen und die Einreise nicht zu verweigern, wenn bei der Einreise zwar zunächst ein falscher Pass vorgelegt wurde, aber zum Zeitpunkt des Schutzersuchens ein echtes Personaldokument vorliegt. Zweifel hinsichtlich des Zeitpunkts der Vorlage des echten Personaldokuments gehen zulasten der Bundespolizei. Ob das echte Personaldokument freiwillig vorgelegt oder bei einer Durchsuchung gefunden wurde, ist unerheblich.

2. Der Asylantrag einer Person, die wegen vermeintlicher Verbindungen zur PKK als Lehrer entlassen wurde und nach einem Freispruch vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in der Türkei weiter an einem Strafverfahren beteiligt ist - ohne dass angesichts der vorliegenden Unterlagen im einzelnen nachvollziehbar ist, in welcher Position - ist nicht offensichtlich unbegründet gemäß § 18 Abs. 3 S. 1, 30 Abs. 1 AsylG. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylantrag, Flughafenverfahren, Einreiseverweigerung, Identitätsfeststellung, Personalausweis, offensichtlich unbegründet, Türkei, UYAP, Lehrer,
Normen: AsylG § 18a Abs. 1 S. 2, AsylG § 18a Abs. 3 S. 1, AsylG § 18a Abs. 4 S. 1, AsylG § 30 Abs. 1
Auszüge:

[...]

20 Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Flughafenverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 18a Abs. 4 Satz 8 AsylG, § 38 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist mithin die Frage, ob im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. "Angegriffener Verwaltungsakt" nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist [im] vorliegenden Flughafenverfahren die Einreiseverweigerung durch die Bundespolizei, wie sich aus § 18a Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 AsylG ("Gewährung der Einreise") sowie aus § 18a Abs. 1 Satz 1 AsylG ("Entscheidung über die Einreise") ergibt.

21 Für den Prüfungsmaßstab des Gerichts bedeutet dies, dass zunächst zu prüfen ist, ob das Verfahren zu Recht nach den Vorgaben des § 18a AsylG durchgeführt wurde und ob die qualifizierte Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt als offensichtlich unbegründet zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist - dies hat gemäß § 18a Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG am Maßstab der ernstlichen Zweifel zu erfolgen.

22 3. Hiervon ausgehend ist der Antrag begründet, weil bereits ernstliche Zweifel bestehen, ob die Voraussetzungen für die Durchführung des Flughafenverfahrens gemäß § 18a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG vorlagen und die Antragsgegnerin eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung treffen durfte. [...]

24 aa) § 18a Abs. 1 AsylG ist jedoch nicht anwendbar bei Ausländern, die einen gültigen Pass oder Passersatz bei sich führen, aber Passlosigkeit vortäuschen, z.B. um ihren Reiseweg zu verschleiern. Bei Feststellung dieses Sachverhalts sind sie, sofern nicht § 18 Abs. 2 eingreift, vielmehr gemäß § 18 Abs. 1 an die Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten [...].

25 Weist der Ausländer sich bei seinem Schutzersuchen nicht mit gültigen Papieren aus, werden diese aber später bei ihm aufgefunden, bleibt die Flughafenregelung anwendbar. [...]

26 Nur wer sich positiv mit einem gültigen Pass oder Passersatz ausweist, fällt nicht unter Abs. 1. Das Dokument kann von dem Ausländer vorgelegt oder bei ihm gefunden sein; es genügt aber nicht, dass er es vorlegen könnte [...].

27 Zusammenfassend ist festzustellen, dass [maßgeblich] für die Frage des Ausweisens mittels gültiger Papiere der Zeitpunkt ist, zu dem der Ausländer sein Asylgesuch äußert. Solange noch kein Asylgesuch geäußert ist, besteht - zumindest aus asylrechtlicher Sicht - schon nicht die Notwendigkeit einer Identitätsklärung; etwaige Täuschungen gegenüber dem Grenzbeamten oder sonstigen Behörden müssen demnach für die Frage, ob das Flughafenverfahren anwendbar ist, außer Betracht bleiben. [...]

28 bb) Gemessen an diesen Maßstäben bestehen ernstliche Zweifel daran, ob das Flughafenverfahren vorliegend angewandt werden durfte:

29 (1) Denn es spricht einiges dafür, dass der Bundespolizei im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Äußerung des Asylgesuchs des Antragstellers bereits dessen gültige türkische ID-Karte vorlag. [...]

38 4. Überdies und unabhängig davon, hat das Gericht ernstliche Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil § 18a Abs. 4 Satz 6 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG des Bundesamts im Bescheid vom 4. August 2023. [...]

39 a) In der Verfahrensübersicht im UYAP des Antragstellers findet sich ausweislich des in der Bundesamtsakte befindlichen Screenshots unter "Verwaltungsverfahren" ein noch offenes Verfahren. Hierbei handelt es sich wohl um das vom Antragsteller angestrebte OHAL-Verfahren gegen seine Entlassung als Lehrer. [...] In der Niederschrift über die Anhörung des Antragstellers ist hierzu unter anderem unter "Vermerk" ausgeführt "[...] Es wird argumentiert, dass auf dem UYAP des Antragstellers ein Verfahren aufgrund PKK geführt wurde. Ihm werden weiterhin Verbindungen zur PKK/PCK unterstellt und deswegen liegen Gründe für eine Ablehnung vor." Das Gericht versteht diesen Vermerk so, dass der Dolmetscher den Inhalt der Ablehnung der OHAL-Kommission kursorisch übersetzt hat. Sofern diese - trotz eines wohl erfolgten Freispruchs - noch immer von einer Verbindung des Antragstellers zur PKK ausgeht, ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller auch strafrechtlich möglicherweise noch entsprechend belangt werden wird, zumal ausweislich der Verfahrensübersicht noch ein strafrechtliches Verfahren als beim Obersten Gerichtshof anhängig geführt wird. [...]

40 b) Weiter findet sich in der Verfahrensübersicht des UYAP des Antragstellers ausweislich des in der Akte befindlichen Screenshots ein noch offenes Verfahren, ursprünglich wohl bei der 1. Großen Strafkammer (Ort ist für das Gericht nicht ersichtlich) anhängig, nunmehr beim Obersten Gerichtshof [...].

45 Dem Gericht ist bewusst, dass gewisse Punkte im Vortrag und in den vorgelegten Beweismitteln gegen eine Verfolgung des Antragstellers in der Türkei sprechen [...].

46 Aufgrund der oben aufgeführten Unwägbarkeiten und der Komplexität des (bislang noch nicht ausermittelten) Sachverhalts kann jedoch nicht von einem offensichtlich unbegründeten Asylantrag ausgegangen werden. [...]