VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 27.09.2023 - 24 B 22.30953 - asyl.net: M31862
https://www.asyl.net/rsdb/m31862
Leitsatz:

Alleinstehenden arbeitsfähigen Anerkannten ist Rückkehr nach Italien zumutbar:

1. Die in Italien drohende Obdachlosigkeit bedeutet zumindest für anerkannte Personen, die nicht besonders vulnerabel sind, keine drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß Art. 4 GR-Charta. Denn Anerkannte können in karitativen Notunterkünften oder in informellen Unterkünften wie Zeltstädten, besetzten Häuser oder Slums einen Schlafplatz finden.

2. In Italien ist ein dramatischer Anstieg von irregulärer Arbeit (auch "Schwarzarbeit") und Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte zu verzeichnen.

3. Es ist arbeitsfähigen Anerkannten möglich und zumutbar, ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Sie sind auch auf die Möglichkeit irregulärer Arbeit zu verweisen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG - asyl.net: M31478; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Anerkannte, Obdachlosigkeit, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Arbeit
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

23 b) Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln erwarten den alleinstehenden und arbeitsfähigen Kläger als anerkannt Schutzberechtigten, der mangels gegenteiliger Erkenntnisse nicht als vulnerabel anzusehen ist, bei seiner Rückkehr nach Italien keine Lebensverhältnisse, die ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh im vorstehenden Sinne zu erfahren (vgl. BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 20 ff.). [...]

25 bb) Hinsichtlich der für Art. 4 GRCh maßgeblichen Bewertung der Unterkunfts- bzw. Unterbringungsmöglichkeiten ist vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wegen des bestehenden Angebots von Nichtregierungsorganisationen, Freiwilligenorganisationen und Kirchen nicht von einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Lage auszugehen (3), obwohl der Kläger keinen Anspruch auf behördliche Unterbringung mehr haben dürfte (1) und ihm die Anmietung einer Sozialwohnung oder einer Wohnung auf dem freien Markt kaum in absehbarer Zeit gelingen wird (2).

26 (1) In Italien bildet das nach der Reform von 2020 entstandene Zweitaufnahmesystem "Sistema Asilo Integrazione" (SAI) die maßgebliche Unterbringungsmöglichkeit für anerkannt Schutzberechtigte [...].

28 Vorliegend ist mit Blick auf die Äußerung des Klägers gegenüber dem Bundesamt, er habe ein Jahr in einem Camp gelebt, habe aber "raus" gemusst, als er anerkannt wurde (vgl. Bl. 90 BA), zwar unklar, ob er sich zumindest kurz in einer Unterkunft im Rahmen des SAI-Systems aufgehalten hat; jedoch ist zumindest anzunehmen, dass er im Rahmen der Anerkennung entsprechend den bestehenden italienischen Regelungen eine Möglichkeit hatte, dort Obdach zu finden und diese Möglichkeit nach den vorstehenden Regeln nun nicht mehr besteht.

29 (2) Der Kläger wird voraussichtlich in absehbarer Zeit auch weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt erlangen können. Anerkannt schutzberechtigte Personen haben zwar grundsätzlich Zugang zu Sozialwohnungen zu den gleichen Bedingungen wie italienische Staatsangehörige. In manchen Regionen ist dieser Zugang an eine bestimmte ununterbrochene Mindestmeldezeit gebunden, wobei solche Praktiken vom italienischen Verfassungsgericht 2021 für unzulässig erklärt wurden. Wartezeiten von mehreren Jahren auf eine Wohnung sind jedoch die Regel [...]

30 (3) Trotz der dem Kläger bei einer Rückkehr nach Italien – jedenfalls in der Anfangszeit - drohenden Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit, ist es ihm möglich, einen Lebensstandard zu halten, der noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRCh liegt (so auch OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – Rn. 53 ff. mit Verweis auf VGH BW, B.v. 8.11.2021 - A 4 S 2850/21).

31 Zwar kann Obdachlosigkeit zu einer für die Verletzung des Art. 4 GRCh hinreichenden Bedingung anwachsen, wenn die Betroffenen zusätzlich besondere Vulnerabilitäten aufweisen oder wenn sie in der Obdachlosigkeit auch in denjenigen Situationen auf sich selbst gestellt bleiben, in denen ihre Unterstützung zur Vermeidung einer extremen materiellen Not zwingend notwendig ist. Davon kann jedoch bei alleinstehenden und arbeitsfähigen Personen angesichts der zahlreichen Hilfsangebote verschiedener Akteure nicht ohne weitere Anhaltspunkte ausgegangen werden. Auch wenn sich die Lebenssituation und der Lebensstandard der anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien im Vergleich zu einem Aufenthalt in Deutschland deutlich verschlechtern, stellt dies noch keine mit Art. 4 GRCh unvereinbare Situation dar. Ausweislich der Erkenntnismittel können anerkannt Schutzberechtigte in privaten Notunterkünften ihre elementarsten Grundbedürfnisse decken und auf ein umfangreiches Netzwerk privater Einrichtungen zur Aufnahme von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten, die von kirchlichen und Nichtregierungsorganisationen getragen werden, zurückgreifen. Insbesondere die Kirchen bieten in Italien ein breites Spektrum an Hilfsleistungen an. Dies betrifft namentlich die Zurverfügungstellung von (Not-)Unterkünften, Kleidung und Nahrung [...]. Viele Menschen mit internationalem Schutzstatus leben in Notunterkünften, die lediglich einen Schlafplatz anbieten und auch anderen Bedürftigen zur Verfügung stehen [...]. Daneben existieren zahlreiche informelle Unterkünfte (Zeltstädte, Slums, besetzte Häuser), die teilweise von Hilfsorganisationen im Hinblick auf die Grundversorgung unterstützt werden [...]. Es ist nicht-vulnerablen anerkannt schutzberechtigten Personen wie dem Kläger möglich und zumutbar, sich darüber zu informieren, an welchem Ort noch Kapazitäten bestehen und ihren Aufenthalt auch dorthin zu verlagern. [...]

32 cc) Im Hinblick auf die für Art. 4 GRCh ebenfalls maßgebliche Bewertung der Existenzsicherung geht der Senat davon aus, dass anerkannt Schutzberechtigte trotz einer schwierigen wirtschaftlichen Situation (1) dennoch eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und so für ihren Lebensunterhalt (mit) sorgen können (2).

33 (1) Personen, die als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte internationalen Schutz genießen, haben in Italien denselben Zugang zum Arbeitsmarkt wie Inländer. In der Praxis bestehen wegen der hohen Arbeitslosigkeit Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist weit verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus schwierig, Arbeit zu finden. Meist bleibt ihnen nur die Arbeit in der Schattenwirtschaft, wo die Gefahr der Ausbeutung ein Problem darstellt. Im Allgemeinen sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und befristet. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten. [...]

34 [...] In den vergangenen Jahrzehnten war in Italien ein dramatischer Anstieg von Schwarzarbeit, illegalen Anwerbungsmethoden und damit einhergehender Ausbeutung von ausländischen Arbeitskräften zu verzeichnen (sog. "caporalato"). Zur Bekämpfung dieser Zustände wurden bestehende Strafen verschärft und neue Straftatbestände gegen kriminelle Arbeitgeber geschaffen; der italienische Staat geht vermehrt gegen illegale Beschäftigung und Ausbeutung von Ausländern vor [...].

38 (2) Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger als arbeitsfähiger Schutzberechtigter bei seiner Rückkehr nach Italien in der Lage ist, sein wirtschaftliches Existenzminimum durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Hilfsangeboten von kirchlichen oder Nichtregierungsorganisationen zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, zu erwirtschaften. Aus Sicht des Senats ist es arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten regelmäßig möglich und zumutbar, sich gerade in der Anfangszeit um Anstellungen im Tourismusgewerbe oder in der Landwirtschaft zu bemühen und so für ihre Existenzsicherung zu sorgen. Sie müssen sich hierbei auch auf - ggf. befristete - Aushilfstätigkeiten verweisen lassen. Denn der Maßstab kann nur das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige sein, wobei es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zumutbar ist, auch Tätigkeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison oder Erntezeit, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind. [...]