OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG - asyl.net: M31478
https://www.asyl.net/rsdb/m31478
Leitsatz:

Anerkannten droht in Italien keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta:

1. Anerkannten Schutzberechtigten droht in Italien zwar die Obdachlosigkeit. Dieser Umstand ist jedoch für sich genommen bei alleinstehenden, nicht vulnerablen Erwachsenen nicht ausreichend, eine Verletzung von Art. 4 GR-Charta zu begründen.

2. Anerkannte Schutzberechtigte können hinlängliche Unterstützung durch Hilfsangebote verschiedenster Akteur*innen erhalten. Zudem können sie grundsätzlich durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit für ihren Lebensunterhalt sorgen.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Berufung, Unzulässigkeitsentscheidung, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, besonders schutzbedürftig, sexuelle Gewalt, Aufnahmebedingungen,
Normen: GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 lit. a),
Auszüge:

[...]

4 Im Rahmen der persönlichen Anhörung gemäß § 25 AsylG am gleichen Tage gab die Klägerin schließlich an, dass sie in Italien doch einen Asylantrag gestellt habe. Dies sei auf Sizilien gewesen. Sie sei nicht angehört worden und habe keine Kenntnis über den Ausgang des Verfahrens. Unmittelbar nachdem sie in Italien angekommen sei, sei sie an einem Bahnhof von ein paar Männern vergewaltigt worden. Die Polizei habe sie daraufhin in ein Krankenhaus gebracht und den Vorfall aufgenommen. Im Anschluss daran habe sie sich mehreren nigerianischen Frauen angeschlossen und sei gemeinsam mit diesen schließlich nach Sizilien gegangen. Während ihres Aufenthalts in Italien sei sie obdachlos gewesen. In ein Flüchtlingslager habe sie nicht gehen wollen, weil sie das Land ohnehin habe verlassen wollen. Sie habe jedoch zunächst nicht über ausreichend Geld für die Weiterreise verfügt. Sie sei dann immer zur Kirche gegangen, wo sie Kleidung und auch etwas Geld bekommen habe, das sie angespart habe. Nach Italien könne sie nicht zurück, da es dort kein richtiges Leben gebe. Sie leide an einer Gastritis und durch die Vergewaltigung sowie die schlechten Lebensumstände sei sie im Schambereich noch immer verletzt. In Italien seien ihr deswegen Tabletten gegeben worden. Nach ihrer Ankunft in Deutschland habe sie einen Mann kennengelernt und religiös geheiratet. Ihre Mutter lebe noch in Mogadischu und sorge dort für ihr Kind, dessen Vater bereits gestorben sei. Ihr Bruder lebe ebenfalls noch in Somalia und verkaufe dort Brot. Ihr Onkel lebe in Ingelheim. Eine Schule habe sie nicht besucht und sie sei auch nicht alphabetisiert. [...]

49 Anerkannt Schutzberechtigten droht in Italien zur Überzeugung des Senats – insbesondere im Zeitraum unmittelbar nach deren Rückkehr – zwar die Obdachlosigkeit (aa.), diese ist jedoch für sich genommen nicht hinlänglich für die Annahme einer chartawidrigen Aufnahmesituation – jedenfalls soweit sie alleinstehende Erwachsene ohne individuelle Sonderrisikofaktoren betrifft (bb.). In dieser Situation erfahren anerkannt Schutzberechtigte eine noch hinreichende Unterstützung zur Befriedigung ihrer elementarsten Grundbedürfnisse (cc.) und ihnen steht ungeachtet all dessen auch die zumutbare Möglichkeit offen, ihre eigene Situation – etwa durch die Aufnahme einer Beschäftigung – aktiv zu verbessern (dd.). [...]

58 bb. Damit steht fest, dass anerkannt Schutzberechtigte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in die Obdachlosigkeit entlassen würden, sollten sie auf sich selbst gestellt nach Italien zurückkehren müssen, und zwar selbst dann, wenn sie einer besonders vulnerablen Personengruppe angehören.

59 Eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit ist jedoch für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not (siehe hierzu bereits oben a.; a.A.: OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 – 11 A 1674/20.A –, juris Rn. 37 und VGH BW, Urteil vom 27. Januar 2022 – A 4 S  2443/21 –, juris Rn. 21 ff.; vgl. zur hier vertretenen Ansicht aber zugleich: VGH BW, Beschluss vom 8. November 2021 – A 4 S 2850/21 –, juris Rn. 9). Denn es ist auch in diesen Fällen grundsätzlich möglich, einen Lebensstandard zu halten, der noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRC liegt. Die Obdachlosigkeit kann jedoch im Wesentlichen dann zu einer für die Verletzung des Art. 4 GRC hinreichenden Bedingung anwachsen, wenn die Betroffenen zusätzlich besondere Vulnerabilitäten aufweisen (1) und/oder wenn sie in der Obdachlosigkeit auch in denjenigen Situationen auf sich selbst gestellt bleiben, in denen ihre Unterstützung zur Vermeidung einer extremen materiellen Not zwingend notwendig ist (2). [...]

62 cc. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittellage gelangt der Senat indessen zum weiteren Ergebnis, dass anerkannt Schutzberechtigten in Italien, die wie die Klägerin keine besonderen Vulnerabilitäten aufweisen, trotz einer drohenden Obdachlosigkeit die vorgenannten Hilfsangebote noch in hinreichendem Maße zur Verfügung stehen bzw. erreichbar sind. Für die – worauf es maßstäblich insoweit ankommen würde – Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass anerkannt Schutzberechtigten keine hinreichenden Hilfsangebote offenstehen, bleibt nach diesen Feststellungen kein Raum mehr.

63 (1) In Italien werden staatliche Unterstützungen für Obdachlose zwar grundsätzlich nur durch die jeweilige Wohnsitzgemeinde angeboten. Zusätzlich zu diesen staatlichen Angeboten steht anerkannt Schutzberechtigten, die aus einem EU-Mitgliedsstaat nach Italien zurückgeführt werden und die keinen Zugang zu einer staatlichen Unterkunft erhalten, aber auch ein breites Angebot einer Vielzahl von NROs zur Verfügung, die entsprechende Unterstützung und Hilfeleistungen anbieten. Insbesondere existieren auch außerhalb der staatlichen Strukturen zahlreiche private Unterbringungsmöglichkeiten – namentlich Schlafplätze und Notunterkünfte –, betrieben etwa von Kirchen und Freiwilligenorganisationen wie Caritas, Suore Missionarie della Carità, Centro Astalli, Stranieri in Italia, Opere Antoniane, Comunità di Sant‘Egidio oder dem Italienischen Flüchtlingsrat (CIR). Darüber hinaus gibt es regional und kommunal zahlreiche Angebote, die temporäre Unterkunft, Versorgung und Verpflegung anbieten. Insbesondere in Großstädten und regionalen Ballungsräumen werden Unterkünfte und Notschlafplätze sowie Hilfen karitativer Einrichtungen angeboten. (vgl. Gemeinsamer Bericht des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums des Innern und für Heimat und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Aufnahmesituation von Asylantragstellenden sowie anerkannt Schutzberechtigten in Italien, Stand: September 2022 – Im Folgenden "Gemeinsamer Bericht", S. 28; BFA [Österreich], Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1. Juli 2022, S. 20 und SFH v. 10. Juni 2021, S. 13, 14 m.w.N.). [...]

69 In Anbetracht dieser Hilfsangebote der verschiedensten Akteure gelangt der Senat zur Überzeugung, dass anerkannt Schutzberechtigte, die im Falle ihrer Rückkehr von Obdachlosigkeit betroffen sind (s.o. aa.), eine jedenfalls derzeit noch hinlängliche Unterstützung erfahren, sodass in der Gesamtschau keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie ihr Existenzminimum nicht i.S.d. Art. 4 GRC sichern können. Soweit in Italien regionale Unterschiede bei der Verfügbarkeit und/oder Auslastung dieser Angebote besteht, ist es den anerkannt Schutzberechtigten sowohl möglich als auch zumutbar, sich darüber zu informieren, an welchem Ort noch Kapazitäten bestehen und ihren Aufenthalt schließlich dorthin zu verlagern.

70 Lediglich ergänzend weist der Senat noch darauf hin, dass landesweit auch eine Anzahl an informellen Siedlungen besteht, die jedenfalls die Möglichkeit bieten, einen hinreichenden Schutz vor extremen Witterungsverhältnissen zu finden (vgl. AIDA v. 18. Mai 2022, S. 118; 138 f. m.w.N. und BFA, a.a.O., S. 14). Im Umfeld einzelner informeller Siedlungen sind zudem auch NROs aktiv, die insbesondere vulnerablen Personengruppen und auch Frauen eine feste Unterkunft zur Verfügung stellen (vgl. AIDA v. 18. Mai 2022, S. 140). [...]

72 dd. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen gelangt der Senat auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnismittellage schließlich zur weiteren Überzeugung, dass nach Italien zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich auch durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (mit) für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Hierdurch wird ihnen insbesondere die Suche nach einer dauerhaften Unterkunft (weiter) erleichtert. [...]

74 Dabei ist es den Betroffenen notfalls auch zumutbar, eine wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entspricht und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison (s.o.), ausgeübt werden kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B 66.21 –, juris Rn. 29). Ob anerkannt Schutzberechtigten auch außerhalb der regulären Beschäftigungsangebote eine Arbeitsaufnahme im Bereich der ggf. "landesüblichen" Schatten- oder Nischenwirtschaft zuzumuten ist, deren Definition freilich konturlos bleibt (vgl. hierzu: BVerwG, a.a.O.), kann daher im Ergebnis dahinstehen (vgl. zu einem entsprechenden "Bedarf" im Übrigen: Gemeinsamer Bericht, S. 18 f.). [...]