VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 31.07.2023 - M 19 S 23.50322 - asyl.net: M31827
https://www.asyl.net/rsdb/m31827
Leitsatz:

Auch besonders vulnerablen Geflüchteten droht bei Dublin-Rückkehr nach Italien keine unmenschliche Behandlung:

1. Das italienische Asylsystem weist keine allgemeinen oder bestimmte Personengruppe betreffenden systemischen Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO auf.

2. Weder das Rundschreiben der italienischen Behörden von Dezember 2022, wonach die (Rück-)Übernahme im Dublin-System bis auf Weiteres ausgesetzt wird, noch der Umstand, dass seitdem keine Personen mehr im Dublin-Verfahren nach Italien überstellt werden konnten, begründen die Annahme, dass nicht gemäß § 34a Abs. 1 AsylG feststehe, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.

3. Zwar handelt es sich bei der Klägerin und ihrem Kind um besonders vulnerable Geflüchtete. Das Kind wurde 2022 geboren und ist mithin ein besonders schutzbedürftiges Kleinkind und die alleinerziehende Mutter ist Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Auch unter Berücksichtigung der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR [Urteil vom 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel gg. die Schweiz) (ASYLMAGAZIN 12/2014, S. 424 f.) - asyl.net: M22411], bedarf es keiner individuellen Zusicherung der italienischen Behörden, wonach die individuelle Schutzbedarfe bei Aufnahme und Unterbringung berücksichtigt werden. Denn es ist nicht ersichtlich, dass dem Kind Obdachlosigkeit oder eine nicht kindgerechte Unterbringung drohen würde. Hinsichtlich der Mutter ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Reviktimisierung auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.06.2023 - 11 A 1132/22.A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 254 f.) - asyl.net: M31640; VG Stuttgart, Beschluss vom 23.08.2023 - A 4 K 4321/23 - asyl.net: M31830; VG Hamburg, Urteil vom 14.04.2023 - 9 A 1756/20 - asyl.net: M31555; VG Gera, Urteil vom 14.04.2023 - 2 K 1416/22 Ge - asyl.net: M31673; VG Düsseldorf, Urteil vom 23.02.2023 - 8 K 3701/22.A (Asylmagazin 4/2023, S. 107 f.) - asyl.net: M31349; VG Berlin, Beschluss vom 22.12.2022 - 33 L 376/22 A - asyl.net: M31197; ähnlich wie hier: VG Ansbach, Beschluss vom 04.07.2023 - AN 14 S 23.50252 - asyl.net: M31823)

Siehe auch:

  • Justus Linz, Rechtsprechungsübersicht: Dublin-Überstellungen und Abschiebungen »Anerkannter« nach Italien, Asylmagazin 1-2/2023, S. 12
  • Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel auf der Seite des Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V., "Fachberatungsstellensuche"
  • Zum Verhältnis von Dublin-Verfahren und Aufenthaltsrichtlinie für Opfer des Menschenhandels: EuGH, Urteil vom 30.03.2023 - C-338/21 Niederlande gegen S.S., N.Z. und S.S. - asyl.net: M31404
Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Kind, Kleinkind, besonders schutzbedürftig, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Abschiebungsanordnung, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1
Auszüge:

[...]

27 2.2 Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der aktuellen (auch) obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin in Italien tatsächlich Gefahr läuft, bei einer Überstellung nach Italien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

28 2.2.1 Das italienische Asylverfahren weist keine allgemeinen oder bestimmte Personengruppen betreffenden systemischen Mängel auf. [...]

29 2.2.2 Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. Dezember 2022 und vom 7. Dezember 2022 ("Circular Letters" des "Ministero dell’Interno") an die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diesen Schreiben zufolge setzt Italien wegen "plötzlich aufgetretener technischer Gründe" und der "Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen" die Aufnahme von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Verfahrens "vorübergehend" aus.

30 Das Gericht geht nicht davon aus, dass vor diesem Hintergrund im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststehen würde, dass die Überstellung der Antragstellerin nach Italien nicht durchgeführt werden könnte.

31 Mit einem "Feststehen" gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist kein Feststehen im Sinne einer absoluten Sicherheit gemeint. Vielmehr reicht es aus, dass nach dem derzeitigen Verfahrensstand und der Erkenntnislage des Bundesamts die Überstellung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden kann, wobei für den Prognosezeitraum der Aufnahmebereitschaft auf die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzustellen ist [...].

32 Aus der Tatsache, dass es sich hier um eine Prognose der zuständigen Behörde handelt, folgt, dass die gerichtliche Kontrolle, ob die Überstellung in diesem Sinne durchgeführt werden kann, naturgemäß eingeschränkt ist [...]. Das Gericht kann und muss – zumal im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – nicht positiv feststellen, dass die Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist mit Sicherheit durchgeführt werden kann. Unzutreffend und damit rechtswidrig wäre die Prognose des Bundesamts nur dann, wenn es weiterhin von einer Durchführbarkeit der Überstellung ausginge, obwohl der ersuchte Mitgliedsstaat ausdrücklich seine fehlende Übernahmebereitschaft erklärt hat oder er zwar nur vorübergehende Gründe für die fehlende Übernahmebereitschaft geltend macht, aber keinerlei Anstrengungen unternimmt, die eine Aufnahme erschwerenden Probleme zu lösen, obwohl derartiges sowohl möglich als auch zumutbar wäre (zum Vorstehenden VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 74 ff.).

33 Dies zugrunde gelegt ist die Prognoseeinschätzung des Bundesamts, dass eine Überstellung der Antragstellerin nach Italien innerhalb der konkreten, derzeit durch den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gehemmten Überstellungsfrist möglich ist, hier nicht zu beanstanden. Aus den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums kann eine fehlende dauerhafte Übernahmebereitschaft nicht gefolgert werden. Da das Schreiben selbst den "vorübergehenden" Umstand ("temporary suspension") betont und auf die Notwendigkeit der erneuten Terminierung von Überstellungen ("need for rescheduling of reception activities") hinweist, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Überstellung der Antragstellerin nach Italien aufgrund der Weigerung der italienischen Behörden nicht möglich sein wird; zudem sind für diesen im Falle einer Verzögerung der Überstellung aufgrund des Zuständigkeitsübergangs bei Fristablauf nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO keine Rechtsnachteile zu befürchten [...].

34 Dem steht nicht entgegen, dass Überstellungen von Dublin-Rückkehrern nach Italien seit den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums noch nicht wieder stattgefunden haben. Dass Italien in der Lage ist, auf eine kurzfristige Steigerung der Flüchtlingszahlen zu reagieren und die Aufnahmekapazitäten auszuweiten, hat das Land in der Vergangenheit mehrfach gezeigt [...]. Es liegen auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte – etwa in Form offizieller amtlicher Erklärungen – vor, dass Italien generell nicht mehr bereit wäre, seinen Pflichten aus der Dublin III-VO nachzukommen [...].

35 2.2.3 Außergewöhnliche Umstände, die für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht gegeben. Denn eine Überstellung der Antragstellerin nach Italien ist auch nicht mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH unmöglich, wonach die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK des Asylsuchenden einer Überstellung auch dann entgegenstehen kann, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Zielstaat ist (EuGH, U.v. 16.02.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91).

36 2.2.3.1 Der EuGH unterscheidet hinsichtlich des Maßstabs für die Prüfung systemischer Mängel in Übereinstimmung mit der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR (EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127) zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen, für die eine "harte Linie" gilt, und andererseits besonders verletzlichen, vulnerablen Antragstellern, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist. Insoweit ist für Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Kranke oder sonstige vulnerable Personen im Dublin-Raum von einem anderen, höheren Schutzstandard auszugehen, der vor einer Überstellung ggf. eine individuelle Versorgungszusicherung des Zielstaats erfordert [...].