VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 22.12.2022 - 33 L 376/22 A - asyl.net: M31197
https://www.asyl.net/rsdb/m31197
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids wegen systemischer Mängel hinsichtlich besonders schutzbedürftiger Personen in Italien:

1. Den Bedürfnissen besonders schutzbedürftiger Schutzsuchender wird im italienischen Asylsystem nicht hinreichend Rechnung getragen. Ihnen droht jedenfalls mittelfristig Verelendung.

2. Es ist davon auszugehen, dass die besonders schutzbedürftigen Antragstellerinnen bei ihrer Rückkehr weder Zugang zu staatlicher Unterbringung erhalten, noch, dass sie anderweitig angemessenen Wohnraum finden können. Schutzsuchende, die nicht in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, erhalten keine finanzielle Unterstützung, so dass davon auszugehen ist, dass die Antragstellerinnen zumindest zeitweise keine Sozialleistung und mithin keine reguläre Krankenversicherung erhalten werden.

3. Besonders Schutzbedürftigen droht nur dann keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß Art. 4 GR-Charta/Art. 3 EMRK im Falle ihrer Überstellung, wenn die italienischen Behörden zuvor eine individuelle und konkrete Zusicherung abgegeben haben, dass die betroffenen Personen Zugang zu einer ihrer Schutzbedürftigkeit entsprechenden Unterkunft und Unterstützung erhalten werden. Entsprechende Rundschreiben oder vorformulierte, formularmäßige Schreiben der italienischen Behörden ohne Bezug zum Einzelfall sind insofern nicht ausreichend.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 - asyl.net: M30220; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1689/20.A (Asylmagazin 10-11/2021, S. 371 ff.) - asyl.net: M29901)

Siehe auch:

  • Rechtsprechungsübersicht: Dublin-Überstellungen und Abschiebungen »Anerkannter« nach Italien, Asylmagazin 1-2 / 2023, S. 12

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Dublin-III-VO, Suspensiveffekt, Unterbringung, besonders schutzbedürftig, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, systemische Mängel, Sozialleistungen, medizinische Versorgung, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, RL 2013/33/EU Art. 21
Auszüge:

[...]

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und nach umfassender Würdigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse sowie der individuellen Lebensumstände der Antragstellerinnen geht das Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der heutigen Entscheidung zwar davon aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien prinzipiell den internationalen und europäischen Mindeststandards entsprechen und jedenfalls die elementaren Bedürfnisse erwachsener und erwerbsfähiger Asylbewerber ohne Kinder zu decken geeignet sind, so dass die ernsthafte Gefahr einer Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Gesundheit oder einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Verelendung regelmäßig nicht besteht (vgl. zuletzt etwa: VG Berlin, Beschlüsse vom 11. November 2022 - VG 33 L 346/22 A und VG 33 L 344/22 A - Entscheidungsabdrucke, S. 5 ff. m.w.N.). Zugleich ist die erkennende Einzelrichterin der Überzeugung, dass den hiesigen Antragstellerinnen bei einer Überstellung nach Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen und aufgrund der individuellen Gegebenheiten ihrer Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer den Gewährleistungen des Artikels 4 GRCh bzw. des Artikels 3 EMRK widersprechenden Behandlung droht. [...]

(2) Es ist nach Auswertung der eingeführten Erkenntnisse im Zeitpunkt der heutigen Entscheidung auch beachtlich wahrscheinlich, dass den besonderen Bedürfnissen der schutzbedürftigen Antragstellerinnen in Italien nicht hinreichend Rechnung getragen werden wird und ihnen jedenfalls mittelfristig eine Verelendung im oben genannten Sinne droht. Im Fall einer Überstellung der Antragstellerinnen nach Italien kann nach Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin nämlich nicht damit gerechnet werden, dass sie ohne wesentliche Verzögerung Aufnahme in einer angemessenen Unterkunft, d.h. in einer geeigneten öffentlichen Aufnahmeeinrichtung finden werden oder sich alternativ eigenständig mit angemessenem Wohnraum werden versorgen können. Dies wiederum wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblich defizitären medizinischen Versorgung der schwer erkrankten Antragstellerin zu 1 führen. [...]

Angesichts dieser Unterbringungssituation ist nach Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin beachtlich wahrscheinlich, dass die Antragstellerinnen nach ihrer Überstellung nach Italien jedenfalls zeitweise keinen Zugang zu einer staatlichen Aufnahmeeinrichtung erhalten werden.

Auch eine Unterbringung der Antragstellerinnen außerhalb von staatlichen Aufnahmeeinrichtungen ist nicht hinreichend sicher gewährleistet (vgl. hierzu grundsätzlich OVG Münster, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris Rn. 102 f.). [...]

Eine Unterbringung der Antragstellerinnen in öffentlich gefördertem Wohnraum erscheint ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. [...]

Die Antragstellerinnen können auch nicht auf Notunterkünfte verwiesen werden, die obdachlosen Personen in Italien teilweise von Kommunen oder Hilfsorganisationen bereitgestellt werden. Derartige Notunterkünfte sind für vulnerable Personen wie die erkrankte Antragstellerin zu 1 mit ihrer 10-jährigen Tochter nicht geeignet, den Eintritt extremer materieller Not zu verhindern (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 23. Mai 2022 - VG 25 L 140/22 A - mit Verweis auf VGH Kassel, Beschluss vom 11. Januar 2021 - 3 A 539/20.A -, juris Rn. 23). Darüber hinaus hat sich die Anzahl an Plätzen in Notunterkünften, die nicht speziell für Personen aus dem Migrationsbereich reserviert sind, im Zuge der Pandemie halbiert, sodass es auch hier an den erforderlichen Kapazitäten mangelt (vgl. SFH, Anfragebeantwortung an das OVG Münster vom 17. Mai 2021 - 11 A 1674/20.A -, S. 4).

Die Antragstellerinnen werden im Falle ihrer Überstellung nach Italien auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe sie dort ihr Existenzminimum sichern könnten. Asylsuchende, die nicht in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, erhalten keine staatliche finanzielle Unterstützung (vgl. Raphaelswerk e.V., Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Juni 2020, S. 14). Da die Antragstellerinnen nach dem oben Gesagten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu dem öffentlichen Aufnahmesystem haben werden, ist beachtlich wahrscheinlich, dass sie mindestens zeitweise auch keine Sozialleistungen, mithin auch keine reguläre Krankenversicherung, sondern lediglich eine Notfallversorgung erhalten werden.

Die Überstellung der Antragstellerinnen nach Italien erweist sich auch nicht deswegen als rechtmäßig, weil beachtlich wahrscheinlich erscheint, dass sie ihren Lebensunterhalt samt kostspieliger medizinischer Versorgung auch ohne staatliche Unterstützung durch eigene Erwerbstätigkeit werden sichern können. [...]

Hinsichtlich als besonders schutzbedürftig anzusehender Personen wie den Antragstellerinnen geht das erkennende Gericht auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 16; BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 - juris, Rn. 16; EGMR, Urteil vom 4. November 2014 [Tarakhel/Schweiz] Nr. 29217/12 juris, Rn. 122) weiterhin davon aus, dass diesen Personen bei einer (Rück-)Überstellung nach Italien eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. des Art. 3 EMRK droht, wenn nicht die italienischen Behörden zuvor eine individuelle und konkrete Zusicherung abgegeben haben, dass die jeweils betroffenen Personen Zugang zu einer ihrer Schutzbedürftigkeit entsprechenden Unterkunft sowie für die Dauer ihrer Vulnerabilität angemessene Unterstützung erhalten (so im Ergebnis etwa auch: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Juli 2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 42 ff., Rn. 41; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22. Februar 2022 - 1a K 2967/19 A. - juris Rn. 62 ff.; a. A. etwa Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 22. März 2022 - 4 A 389/20.A - juris Rn. 39 ff.).

An einer solchen individuellen Zusicherung der italienischen Behörden, aus der hervorgehen würde, dass der besondere Versorgungsbedarf der schutzwürdigen Antragstellerinnen in Italien gewährleistet ist, fehlt es im vorliegenden Fall. Nach dem oben Gesagten kann - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - die seitens der italienischen Behörden mittels diverser Rundschreiben, zuletzt mit dem "Circular Letter" des "Ministero dell'Interno" vom 8. Februar 2021 abgegebene Versicherung, wonach für eine zureichende Unterkunft für Familien mit Kleinkindern gesorgt werde, weiterhin nicht als insoweit tragfähig und hinreichend angesehen werden. [...]

Auch das hier vorliegende italienische Zustimmungsschreiben vom 10. Oktober 2022 (BI. 86 Asylakte) ist nicht geeignet, die beschriebene Gefahr zu beseitigen. Bei diesem Schreiben handelt es sich ganz offensichtlich um ein vorformuliertes und formularmäßiges Schreiben, welches in keiner Weise auf die besondere Vulnerabilität der Antragstellerinnen, hier insbesondere die Erkrankung der Antragstellerin zu 1 eingeht. [...]