VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 11.07.2023 - 7 K 114/22.A - asyl.net: M31797
https://www.asyl.net/rsdb/m31797
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für bisexuellen Mann aus dem Libanon:

1. Dass der Kläger seine sexuelle Orientierung in der Anhörung gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verschwiegen und erst im Gerichtsverfahren geltend gemacht hat, schließt als erhebliche Steigerung des Vortrags ausnahmsweise nicht aus, dass es sich um einen stimmigen, glaubhaften Vortrag handelt. Denn der gesteigerte Vortrag kann in diesem Fall aufgrund nachvollziehbarer Gründe entschuldigt werden. Der Kläger hat dargelegt, dass er seine Bisexualität verschwiegen hat, weil er vor allem Kontakt zu Personen aus dem arabischen Kulturraum pflegt und homophobe Reaktionen befürchtete und deshalb seine Bisexualität nicht gegenüber einem Dolmetscher aus dem arabischen Kulturkreis offenlegen wollte.

2. Im Libanon stehen homosexuelle Handlungen unter Strafe und werden als "widernatürlicher Geschlechtsverkehr" mit Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr bestraft. Diese Strafvorschriften werden auch angewandt, und es kommt zu Verurteilungen und Haft. Ermittlungen werden üblicherweise nicht von Amts wegen, sondern auf Antrag von Familienangehörigen oder Nachbarn aufgenommen. Ferner kommt es gelegentlich zu Schikanen, zum Teil auch gewalttätigen Übergriffen durch Sicherheitsorgane oder religiöse Gruppen.

3. Angesichts der drohenden Strafverfolgung wegen homosexueller Handlungen besteht für den Kläger das reale Risiko einer Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sodass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Dresden, Urteil vom 13.12.2021 - 11 K 1268/19.A - lsvd.de)

Schlagwörter: Libanon, bisexuell, homosexuell, Strafverfahren, Strafverfolgung, staatliche Verfolgung, gesteigertes Vorbringen, Vortrag, Glaubwürdigkeit, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 25 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers vor.

Denn der Kläger hat letztlich zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, bisexuell zu sein und den Libanon unter anderem aufgrund der deshalb bestehenden Verfolgungsgefahr verlassen zu haben.

a) Das Gericht verkennt nicht, dass derartige Behauptungen nunmehr von einer Vielzahl von Asylantragstellern aus dem Libanon aufgestellt werden. Vor diesem Hintergrund hat es den Kläger besonders eindringlich zu den von ihm behaupteten sexuellen Neigungen befragt und überprüft, ob er kritischen Nachfragen standhalten kann. [...]

Dies gilt auch unter der Maßgabe, dass der Kläger in seiner Anhörung vor dem Bundesamt seine Bisexualität nicht erwähnte. Das Gericht verkennt nicht, dass die erhebliche Steigerung des Vortrags im Verfahren regelmäßig dazu führt, dass nicht von einem stimmigen, glaubhaften Vortrag ausgegangen werden kann. Gleichfalls müssen aber Ausnahmen verbleiben, bei denen die späte Einführung maßgeblicher Umstände ins Verfahren entschuldigt werden kann, wenn dafür nachvollziehbare Gründe vorliegen und diese ebenfalls als glaubhaft erachtet werden. [...]

So liegt der Fall hier. Der Kläger hat auf entsprechende Nachfrage ausführlich dargelegt, weshalb er in der Anhörung beim Bundesamt seine Bisexualität verschwieg. Dies konnte er nachvollziehbar damit begründen, dass er auch in Deutschland momentan noch vor allem Kontakt zu Personen pflegt, die aus dem arabischen Kulturkreis stammen und mit einer Stigmatisierung und Tabuisierung von Bi- und Homosexualität sozialisiert wurden und entsprechend darauf reagieren würden. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel und steht einer Bewertung des Vorbringens als glaubhaft im Rahmen des Gerichtsverfahrens nicht entgegen, dass der Kläger diese Umstände in der durch einen Dolmetscher aus dem arabischen Kulturkreis übersetzten Anhörung nicht offenbaren wollte, zumal gezielte Nachfragen zu diesem Thema laut Niederschrift nicht erfolgt sind.

b) Aus seiner Bisexualität resultiert für den Kläger die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer rechtlich erheblichen Verfolgung durch die libanesische Strafjustiz. [...]

Dies zugrunde gelegt ist für den Libanon auszuführen: Im Libanon bestehen strafrechtliche Vorschriften, die spezifisch homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen und die auch in der Praxis angewandt werden. Nach Art. 534 des libanesischen Strafgesetzbuchs wird der ''widernatürliche Geschlechtsverkehr'' mit Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr bestraft [...]. Darunter wird der penetrative Geschlechtsverkehr zwischen Männern verstanden [...]. Ermittlungen werden zwar von der Polizei üblicherweise nicht von Amts wegen, sondern nur im Einzelfall auf Antrag von Familienangehörigen oder Nachbarn aufgenommen. Gleichwohl kommt es gelegentlich zur Verurteilung und Haft. Ferner kommt es gelegentlich zu Schikanen, zum Teil auch zu gewalttätigen Übergriffen durch Sicherheitsorgane, aber auch durch religiöse Gruppen [...]. Seit 2009 habe es allerdings auch einzelne Gerichtsentscheidungen gegeben, denen zufolge homosexuelle Handlungen nicht ''widernatürlich" seien und daher tatbestandlich nicht von Art. 534 erfasst seien, darunter sogar eine Entscheidung eines Berufungsgerichtes als auch eines Militärgerichtes. Dies ist allerdings weiterhin Ausdruck einer Minderheitsmeinung in der Rechtsprechung. Während zudem in Teilen der Hauptstadt eine im Vergleich zu anderen Ländern der Region weitgehende Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten vorherrscht und auch NROs (u. a. HELEM) toleriert werden und mit gewissen Einschränkungen arbeiten können, sind soziale Zwänge außerhalb Beiruts groß [...].

Der Kläger unterliegt damit durch seine Bisexualität einem realen Risiko, dass gegen ihn eine Strafvorschrift Anwendung findet, und ihm dadurch wegen seiner sexuellen Veranlagung Verfolgungsgefahr aufgrund eines zum Flüchtlingsschutzes führenden Grundes mit erheblicher Wahrscheinlichkeit droht. Es unterliegt hinsichtlich des Libanon infolge der dort geltenden strafrechtlichen Normen für homosexuelle Handlungen keinen Zweifeln, von einer Verfolgungshandlung auszugehen, die hinsichtlich Betroffener, die der realistischen Gefahr ausgesetzt sind, zu der angeführten sozialen Gruppe zu gehören oder zugerechnet zu werden, zur Anerkennung des Flüchtlingsschutzes führen muss. [...]