VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 31.05.2023 - 28 K 5509/22.A - asyl.net: M31773
https://www.asyl.net/rsdb/m31773
Leitsatz:

Kein internationaler Schutz für Familienangehörige bei Geburt der Stammberechtigten in Deutschland:

Eltern und Geschwister von Stammberechtigten, die nicht im Verfolgerstaat, sondern erst nach der Flucht geboren wurden, haben keinen Anspruch auf internationaler Schutz nach § 26 AsylGn. Die Familie einschließlich des bzw. der Stammberechtigten muss bereits im Herkunftsland bestanden haben oder zumindest "angelegt" gewesen sein.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Meiningen, Urteil vom 25.04.2023 - 8 K 829/19 Me - asyl.net: M31580)

Schlagwörter: Familienschutz, in Deutschland geborenes Kind, internationaler Schutz, nachgeborenes Kind,
Normen: AsylG § 26, AsylG § 4, AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 2
Auszüge:

[...]

2. Die Kläger können auch nicht die Gewährung internationalen Schutzes von dem minderjährigen Kind ableiten, denn ein solcher Anspruch ist für keinen der Kläger gegeben, weshalb in Bezug auf die Kläger zu 3. bis 5. keine Änderung der Sach- oder Rechtslage gegeben ist und sich auch die vom Bundesamt in Bezug auf die Folgeanträge getroffene Unzulässigkeitsentscheidung als rechtmäßig erweist. [...]

Der in der Bundesrepublik geborenen Tochter der im … 2016 in das Bundesgebiet eingereisten Kläger zu 1. und 2. wurde zwar mit bestandskräftigem Bescheid der Beklagten vom 15. März 2022 die Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht wegen einer ihr in Nigeria drohenden Genitalverstümmelung zuerkannt und die schon vor ihrer Ausreise aus Nigeria nachweislich (vgl. den in Kopie vorliegenden Auszug aus dem Eheregister) miteinander verheirateten Kläger zu 1. und 2. sind als deren Eltern sorgeberechtigt und üben die Personensorge für die mit ihr zusammenlebende Tochter auch tatsächlich aus; es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Flüchtlingsanerkennung der stammberechtigten Tochter zurückzunehmen oder zu widerrufen wäre.

Jedoch hat die Familie im Sinne des Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU nicht schon im Herkunftsland Nigeria bestanden. Eine "Familie" im Sinne des § 26 Abs. 3 AsylG setzt nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen […] aber weiter voraus, dass die Familie einschließlich des stammberechtigten Kindes bereits im Verfolgerstaat bestanden haben bzw. zumindest "angelegt" gewesen sein muss. Hieran fehlt es vorliegend. Die aufgrund der bestandskräftigen Flüchtlingsanerkennung stammberechtigte Tochter wurde erst in Deutschland geboren und die Familie war auch nicht bereits in Nigeria "angelegt".

Schon aus dem Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG ergibt sich, dass die Familie in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Für die Bestimmung des Begriffes "Familie" wird in der Regelung ausdrücklich auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU - QRL - abgestellt, so dass sich die Auslegung nach dieser Norm richtet (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlagebeschluss vom 15. August 2019 - 1 C 32.18 -, juris Rn 13).

In Art. 2 Buchst. j QRL wird aber nicht der Begriff der Familie, sondern nur der Begriff "Familienangehörige" definiert. Hiernach sind Familienangehörige die (nachfolgend in der Regelung aufgezählten) Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Somit ist nicht ohne weiteres klar, ob unter der "Familie" i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL der Stammberechtigte mit Familienangehörigen oder auch nur Familienangehörige als (Rest)Familie zu verstehen sind. Der Europäische Gerichtshof hat insoweit zwar ausgeführt, dass sich aus Art. 2 Buchst. j QRL, der für die Zwecke der Richtlinie den Begriff "Familienangehörige" definiere, in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 QRL ergebe, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf diese Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden sei, erstrecke, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren worden seien, die dort gegründet worden sei (vgl. EUGH, Urteil vom 9. November 2021 - C-91/20 -, juris, Rdnr. 37).

Damit hat das Gericht aber nicht den Begriff "Familie" i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL definiert oder den Regelungsgehalt des Art. 2 Buchst. j QRL auf die genannten Fälle beschränkt, sondern hat lediglich anhand der Vorlagefrage die Norm auf die konkrete Fallgestaltung, in der die Eltern erst außerhalb des Herkunftslandes eine Familie gegründet hatten, angewendet.

Als "Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist" kann nur die Familie einschließlich dieser Person verstanden werden. Die Regelung im 3. Spiegelstrich des Art. 2 Buchst. j QRL, auf die § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG hinsichtlich einzelner Erwachsener Bezug nimmt, stellt ein Hindernis für die Auslegung dar, dass die Familie i.S.d. Art. 2 Buchst. j QRL auch eine (Rest)Familie ohne den stammberechtigten Minderjährigen sein kann. Denn dann könnte - worauf das OVG Sachsen-Anhalt in seinem Beschluss vom 15. Februar 2022 - 4 L 85/21 -, juris mit überzeugender Begründung abstellt - auch eine einzelne Person eine Familie sein. Dies läge aber nicht mehr im Bereich des möglichen Wortsinns der Norm. [...]