OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.07.2023 - 4 LB 8/23 (Asylmagazin 9/2023, S. 305 ff.) - asyl.net: M31749
https://www.asyl.net/rsdb/m31749
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Person aus Eritrea:

1. Im Rahmen der vorzunehmenden Gefahrenprognose ist auf die zwangsweise Rückführung abzustellen, weil die Person nicht freiwillig ausreisen wird und dies auch nicht zumutbar ist. Obwohl im Kleinkindalter ausgereist, müsste sie dafür eine Reueerklärung abgeben, deren Abgabe ihr nicht zuzumuten ist.

2. Bei der zwangsweisen Rückführung droht unmittelbar nach der Einreise eine Inhaftierung und die Einberufung in den Nationaldienst, wobei allein die Haftbedingungen bereits eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Folter darstellen.

(Leitsätze der Redaktion, unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil vom 11.10.2022 - 1 C 9.21 (Asylmagazin 4/2023, S. 100 ff.) - asyl.net: M30993)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Eritrea, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Reueerklärung, Zumutbarkeit, Diasporasteuer, Anspruch, staatsbürgerliche Pflicht, Mitwirkungshandlung, Botschaft, Auslandsvertretung, Qualifikationsrichtlinie,
Normen: AsylG § 4
Auszüge:

[...]

II. Es bestehen stichhaltigen Gründe im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Annahme, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Eritrea Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. [...]

Der Senat geht im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Gefahrenprognose davon aus, dass der Kläger nicht freiwillig, sondern gegen seinen Willen im Rahmen einer zwangsweisen Rückführung nach Eritrea zurückkehrt, und er bei einer zwangsweisen Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, zum eritreischen Nationaldienst einberufen zu werden (dazu unter a.). Bei einer zwangsweisen Rückführung wird der Kläger zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in den militärischen Teil des Nationaldiensts einberufen werden und dort Folter und einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt sein (dazu unter b.). Darüber hinaus droht dem Kläger bei einer zwangsweisen Rückführung nach Eritrea eine Inhaftierung unmittelbar nach Einreise und auch dadurch Folter und eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (dazu unter c.).

a. Das Nationalsystem Eritreas sieht eine umfassende aktive Dienstpflicht für erwachsene eritreische Staatsangehörige wie den Kläger vor (dazu unter aa.). Es ist auch beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger alsbald nach seiner Rückkehr in den Nationaldienst einberufen wird (dazu unter bb.). [...]

bb. Eine Heranziehung des danach grundsätzlich dienstpflichtigen Klägers zum Nationaldienst ist auch beachtlich wahrscheinlich. Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger alsbald nach seiner Rückkehr im Rahmen einer der regulären Rekrutierungsmethoden in den Nationaldienst einberufen werden würde (dazu unter (1)). Dem Kläger droht jedoch im hier zugrundezulegenden Fall einer zwangsweisen Rückführung nach Eritrea eine Inhaftierung mit anschließender Einberufung in den Nationaldienst (dazu unter (2)). Der Kläger kann der Einziehung in den Nationaldienst bei zwangsweiser Rückführung auch nicht durch die Erlangung des sog. Diaspora-Status entgehen (dazu unter (3)). Er kann schließlich nicht in zumutbarer Weise auf die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise und Rückkehr nach Eritrea verwiesen werden (dazu unter (4)). [...]

(2) Allerdings droht dem Kläger bei einer zwangsweisen Rückführung nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Inhaftierung mit anschließender Einberufung in den Nationaldienst.

Zwangsweise zurückgeführten Personen werden von der eritreischen Regierung trotz der Verlautbarung, unfreiwillige Rückkehrer und Abschiebungen abzulehnen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 23) auf individuelle Verhandlungen hin akzeptiert (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 67; UK Home Office, Report of a Home Office Fact-Finding Mission - Eritrea: Illegal exit and national service, Februar 2016, S. 106). In den Jahren 2016 und 2017 haben wiederholt Zwangsrückführungen über die Landgrenze in Talatasher zwischen Kassala und Tesseney stattgefunden. Allein im Jahr 2016 sollen 400 eritreische Migranten aus dem Sudan zurückgeführt worden sein. Anfang 2017 sind erneut 115 Eritreer und Äthiopier über die Landgrenze zurückgeführt worden. Ägypten hat im Jahr 2017 25 Eritreer nach Eritrea zurückgeführt. Im Juni 2019 hat Frankreich eine Eritreerin über Istanbul nach Eritrea zurückgeführt (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 67 f.; AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 2). Bezogen auf die Jahre 2020 und 2021 wird von der Rückführung je einer Person nach Eritrea berichtet (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021), 3.1.2022, S. 23). Im März 2022 soll Ägypten 31 Personen zwangsweise nach Eritrea zurückgeführt haben (HRW, World Report 2023 - Eritrea, 12.1.2023, S. 4).

EASO berichtet unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die - wie der Kläger - noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Nach Auffassung von SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer "giffa" der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt wurden (vgl. dazu unter II. 2. a. bb. (1)). Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen weist darauf hin, es sei ein typisches Muster ("common pattern"), dass zwangsweise zurückgeführte Personen nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert und Verhören unterzogen werden (HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 300). Bis auf ein paar Ausnahmen seien alle zwangsweise zurückgeführten Personen inhaftiert worden (HRC, Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea, 4.6.2015, S. 7). Laut Amnesty International bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass jeder, der im (annähernd) dienstfähigen Alter nach Eritrea zurückgeführt wird, willkürlicher Festnahme ohne Anklage unterliege und Folter und anderen Misshandlungen begegne. Ziel sei der Informationsgewinn darüber, wie und in wessen Begleitung die Personen das Land verfassen haben. Anschließend würden diese Personen - erstmalig oder erneut - dem Nationaldienst zugeführt (AI, Just deserters: Why Indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 9). Bei einer Massenrückführung im Jahr 2016 seien alle 400 aus dem Sudan zurückgeführten Personen inhaftiert worden (AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 3). Aufschluss darüber, wie mit zurückgeführten Personen verfahren wird, lieferten die Erkenntnisse über die Behandlung von Personen, die bei dem Versuch, sich dem Wehr- und Nationaldienst zu entziehen, von ihm zu desertieren oder das Land zu verlassen, aufgegriffen wurden (AI, Anfragebeantwortung an das VG Magdeburg, 2.8.2018, S. 3). Das US Department of State führt aus, dass aus dem Ausland abgeschobene Eritreer ebenso wie bei einem Fluchtversuch aufgegriffene Personen der Gefahr der Verhaftung, Inhaftierung oder Einberufung in den Nationaldienst bei Rückkehr ("upon return") ausgesetzt seien (USDOS, Trafficking in Persons Report, June 2016, S. 166). [...]

(3) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann der Kläger nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden. Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea von vornherein nicht in Betracht.

Der Diaspora-Status wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Je nach Quelle liegt die Dauer der Schutzwirkungen zwischen sechs Monaten und einem Jahr (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 62 f.), einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (Danish Immigration Service (DIS), Eritrea - Nationalservice, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Nach der Erkenntnismittellage wird die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diasporastatus "bereinigt" haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020, Gz.: 508-516.80/, Frage 1).

Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das "Reueformular" und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das "Reuefonnular" enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren (vgl. die englische Übersetzung der "Immigration and Citizenship Services Request Form in: HRC, Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea (Advance Version), 5.6.2015, S. 477: "[...] I regret having committed an offence by not completing the national service and am ready to accept appropriate punishment in due course"). Nach Angaben der eritreischen Behörden ist die Unterzeichnung des Formulars zwar ein Schuldeingeständnis, auf eine Bestrafung wird aber faktisch verzichtet (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022. S. 5 f., 21 f.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 63). Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64). [...]

(4) Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, die aus einer zwangsweisen Rückführung resultierende Gefahr der Inhaftierung und Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr nach Eritrea abwenden zu können. [...]

Eine freiwillige Ausreise und Rückkehr nach Eritrea sind für den Kläger indes nicht zumutbar. Sie ist daher bei der Gefahrenprognose nicht als Möglichkeit in den Blick zu nehmen, die Gefahr der Inhaftierung, verbunden mit der Überprüfung des Nationaldienststatus und der Einberufung in den Nationaldienst, abzuwenden. Passlose nationaldienstverpflichtete Exil-Eritreer wie der Kläger können nur dann freiwillig aus- und unbehelligt nach Eritrea einreisen, wenn sie im Bedarfsfall zuvor die "Reueerklärung" unterzeichnet haben {dazu unter (a)). Der eritreische Staat würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch dem Kläger eine solche "Reueerklärung" abverlangen (dazu unter (b)). Die Abgabe der "Reueerklärung" ist dem Kläger jedoch vorliegend nicht zumutbar (dazu unter (c)). [...]

(b) Auch der Kläger hätte zur Überzeugung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - sowohl gegenüber der eritreischen Auslandsvertretung zur Erlangung einer eritreischen Identitätskarte bzw. des erforderlichen Einreisevisums als auch gegenüber den eritreischen Einwanderungsbehörden bei der Einreise - die vorstehend beschriebene "Reueerklärung" abzugeben bzw. vorzuzeigen, in der er bedauert, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger Eritrea bereits im Kleinkindalter verlassen hat und ihm deshalb bei einer Rückkehr nach Eritrea möglicherweise keine strafrechtliche Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung oder Desertion droht.

(aa) Bei qualifizierender Gesamtbetrachtung und Würdigung der hierzu vorliegenden Erkenntnismittel geht der Senat davon aus, dass der eritreische Staat grundsätzlich allen illegal ausgereisten eritreischen Staatsangehörigen im dienstfähigen Alter und unabhängig davon, ob sie sich nach dem Verständnis eritreischer Behörden dem Wehrdienst entzogen haben oder gar desertiert sind, für die Inanspruchnahme konsularischer Dienstleistungen und zur Erlangung des Diaspora-Status die Unterzeichnung der "Reueerklärung" abverlangt [...].

Soweit es in der Praxis in Einzelfällen vorkommen sollte, dass bei eritreischen Staatsangehörigen für die Inanspruchnahme konsularischer Leistungen auf die Unterzeichnung des "Reueformulars" verzichtet worden ist, rechtfertigt dies keine Rückschlüsse auf die regelmäßige Vorgehensweise der eritreischen Auslandsvertretungen. Im Übrigen werden Behauptungen, dass die eritreischen Botschaften, insbesondere die in Deutschland befindliche, in den letzten Jahren die 2%-Diaspora-Einkommenssteuer nicht mehr einziehen und/oder die Unterzeichnung des "Reueformulars" nicht mehr durchführen würden, als unzutreffend gewertet (Mekonnen/Palacios-Arapiles, Access to Documents by Eritrean Refugees in the Context of Family Reunification", April 2021, S. 41). Eine Befragung gut unterrichteter Eritreerinnen und Eritreer aus Deutschland habe vielmehr ergeben, dass die eritreische Botschaft zwar eine diskretere Art und Weise der Handhabung des Reueformulars eingeführt habe, diese Praxis aber keineswegs eingestellt worden sei (Mekonnen/Palacios-Arapiles, Access to Documents by Eritrean Refugees in the Context of Family Reunification", April 2021, S. 41). [...]

(c) Die Abgabe der "Reueerklärung" ist dem Kläger vorliegend nicht zumutbar.

Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV entschieden, dass die Abgabe der "Reueerklärung" unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 24). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der "Reueerklärung" nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 26). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 27). Dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 27). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der - nachvollziehbar bekundete - Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 28). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 22). [...]

Vorliegend erfüllt der Kläger auch die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten subjektiven Voraussetzungen für eine Unzumutbarkeit der "Reueerklärung". Danach ist es erforderlich, dass der Betroffene seine Ablehnung "plausibel" bekundet (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 31). So liegt der Fall hier. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat widerspruchsfrei und nachvollziehbar erklärt, dass er die Unterzeichnung der Reueerklärung ablehne, weil er damit eine Straftat einräume, die er nicht begangen habe und er eine Bestrafung fürchte (vgl. Sitzungsniederschrift, S. 4 f.). Weitergehende Anforderungen sind an die Weigerung nicht zu stellen, insbesondere bedarf es nicht der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung oder einer unauflöslichen Konfliktlage (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.10.2022 - 1 C 9.21 -, juris Rn. 31). [...]