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VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 26.05.2023 - 5 A 2207/19 - asyl.net: M31705
https://www.asyl.net/rsdb/m31705
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für homosexuellen Mann aus Guinea:

"1. Bildung und Entdeckung der eigenen sexuellen Identität sind ein komplexer Prozess, der nur begrenzt überindividuell feststellbaren, typisierten Mustern folgt; entscheidend ist nur, wie glaubhaft und nachvoll­ziehbar der Weg zur eigenen sexuellen Identität unter Entdeckung der eigenen Homosexualität beschrieben wird (anknüpfend an Berlit/Dörig/Storey, ZAR 2016, 332 f.). Im Einzelfall ist in tatsächlicher Hinsicht für die festzustellende individuelle Entwicklung maßgebend, dass der Betroffene in der Schilderung seiner Lebensgeschichte einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Ereignissen herzustellen sucht (Rn. 32).

2. Rückkehrer nach Guinea sind einem Risiko ausgesetzt, im Einzelfall durch gesellschaftliche Kräfte wie die Großfamilie einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Verfolgungshandlungen wegen Homo­sexualität ausgesetzt zu sein [...]. Im Einzelfall ist eine anlassgeprägte Individualverfolgung durch gesellschaftliche Kräfte zu befürchten, wobei die Gefahrenprognose sich maßgeblich auf die erlittene Vorverfolgung stützt (Rn. 43)."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 25.04.2022 - 31 K 75.19 A - asyl.net: M30667)

Schlagwörter: Guinea, homosexuell, soziale Gruppe, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, Vorverfolgung, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3
Auszüge:

[...]

27 2. In Guinea bilden homosexuelle Menschen eine bestimmte soziale Gruppe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 5 AsylG. [...]

30 3. In Guinea kommt die Verfolgung des Klägers wegen Zugehörigkeit zu dieser bestimmten sozialen Gruppe deshalb in Betracht, weil ihm wird das die Zugehörigkeit begründende Merkmal der Homosexualität zugeschrieben wird. [...]

32 Das Gericht hat aber nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gemäß § 108 Abs. 1 VwGO die Überzeugung erlangt, dass sein zur Begründung seines Asylantrags angebrachter Vortrag der Wahrheit entspricht. [...] Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot; er ist als "Zeuge in eigener Sache" zumeist das einzige Beweismittel; auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an (BVerfG, Urt. v. 14.5.1996, 2 BvR 1516/93, juris Rn. 121, BVerfGE 94, 166). Bildung und Entdeckung der eigenen sexuellen Identität sind ein komplexer Prozess, der nur begrenzt überindividuell feststellbaren, typisierten Mustern folgt; entscheidend ist nur, wie glaubhaft und nachvollziehbar der Weg zur eigenen sexuellen Identität unter Entdeckung der eigenen Homosexualität beschrieben wird (Berlit/Dörig/Storey, Glaubhaftigkeitsprüfung bei Asylklagen aufgrund religiöser Konversion oder Homosexualität: Ein Ansatz von Praktikern <Teil 2>, ZAR 2016, 332 f.). Der Vortrag des Klägers weist in hinreichendem Maß Glaubhaftigkeitsmerkmale auf, die wahren von falschen Behauptungen unterscheiden. [...]

41 Ausgehend davon droht dem Kläger bei Rückkehr Verfolgung.

42 Dabei mag trotz der Strafandrohung in Art. 325 des guineischen Strafgesetzbuches für einen Homosexuellen vom guineischen Staat keine beachtliche wahrscheinliche tatsächliche Gefahr ("real risk") einer strafrechtlichen Verfolgung ausgehen (so OVG Münster, Beschl. v. 5.1.2016, 11 A 324/14.A, juris Rn. 20). Auch mag das Risiko extralegaler Verfolgungshandlungen durch staatliche Organe wie Sicherheitskräfte nicht sich zu einer Gefahr verdichten. Ebenso wenig verhält sich das erkennende Gericht nicht zu der Annahme insbesondere des Verwaltungsgerichts Berlin (Urt. v. 25.4.2022, 31 K 75.19 A, juris Rn. 25, 31), dass Homosexuellen, denen es ein inneres Bedürfnis sei, ihre Homosexualität auszuleben, in Guinea unabhängig von einer Vorverfolgung bei einer Rückkehr nach Guinea Verfolgung durch private Akteure drohe.

43 Zumindest sind Rückkehrer nach Guinea einem Risiko ausgesetzt, im Einzelfall durch gesellschaftliche Kräfte wie die Großfamilie einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in Verfolgungshandlungen wegen Homosexualität ausgesetzt zu sein. Hinsichtlich der ein solches Risiko begründenden Umstände schließt sich das erkennende Gericht den Ausführungen des Verwaltungsgerichts Berlin (Urt. v. 25.4.2022, a.a.O. Rn. 31-34) an: [...]

45 Ausgehend davon hat der Kläger bei Rückkehr nach Guinea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine anlassgeprägte Individualverfolgung durch gesellschaftliche Kräfte zu befürchten. Die auf den Einzelfall bezogene Gefahrenprognose stützt sich maßgeblich auf die von ihm erlittene Vorverfolgung. Der Kläger wurde von seiner Familie bereits einmal ernstlich mit dem Tod bedroht (s.o. 3.). Es gibt in seinem Einzelfall keine stichhaltigen Gründe, dass er bei Rückkehr in sein Herkunftsland nicht erneut Verfolgung erlitte. [...]

47 6. Interner Schutz schließt die Flüchtlingseigenschaft im Fall des Klägers nicht aus. [...]

49 [...] Im Einzelfall des Klägers ist jedoch die mit der erlittenen Vorverfolgung verbundene Vermutung erneuter Verfolgungshandlungen maßgebend, so dass für den Kläger nicht zur Überzeugung des Gerichts ein sicherer Landesteil auszumachen ist. Auch unter der Annahme, dass Homosexuelle in Guinea keiner Gruppenverfolgung ausgesetzt sind, besteht aus individuellen Gründen keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger, der als Kind pädosexuelle Gewalt und als Jugendlicher homophobe Gewalt erfahren und dadurch weiterhin beeinträchtigt scheint, sich als bereits Stigmatisierter einer erneuten Verfolgung wird entziehen können. [...]