Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Guinea:
Homosexuellen Männern droht in Guinea aktuell zumindest Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Der guineische Staat ist nicht schutzbereit oder -fähig.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
25 Nach diesen Maßstäben und nach der Erkenntnislage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist das Gericht auf der Grundlage des Sachverhalts, wie er sich insbesondere infolge der Angaben des Klägers im Termin am 25. April 2022 darstellt, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Guinea dort wegen einer bei ihm tatsächlich bestehenden homosexuellen Orientierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine nach § 3 Abs. 1 AsylG relevante Verfolgung zu erwarten hat. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist und dem Kläger daher die Vermutungsregel aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute kommt. Denn unabhängig von einer möglichen Vorverfolgung ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist, es ihm ein inneres Bedürfnis ist, die Homosexualität auch auszuleben und ihm deshalb bei einer Rückkehr nach Guinea zumindest Verfolgung durch private Akteure drohen würde, ohne dass der guineische Staat in der Lage und Willens wäre, ihn davor zu schützen.
26 Das Gericht ist bei Würdigung aller vorliegenden Erkenntnisse einschließlich der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren davon überzeugt, dass der Kläger tatsächlich homosexuell ist und seine Homosexualität auch bei einer Rückkehr in Guinea ausleben wollen würde. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 7. November 2013, a.a.O., Rn. 65 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts (Nichtannahmebeschluss vom 22. Januar 2020 - 2 BvR 1807/19 -, juris Rn. 19) ist zudem anerkannt, dass homosexuellen Schutzsuchenden nicht abverlangt werden kann, ihre Homosexualität in ihrem Herkunftsland geheim zu halten oder besondere Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Orientierung zu üben, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. [...]
28 Homosexuelle bilden in Guinea eine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, 5. Var. AsylG (vgl. unlängst auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Mai 2021 - A 10 K 561/19 -, juris Rn. 31 ff.; VG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 19. Dezember 2020 - A 15 K 4788/17 -, juris Rn. 19 ff.). [...]
31 Auf Grundlage der aktuellen Erkenntnismittel, die in das Verfahren eingeführt worden ist, ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass homosexuelle Männer in Guinea Verfolgung durch private Akteure ausgesetzt sind (vgl. zuletzt VG Berlin, Urteil vom 13. April 2022, - VG 31 K 152.19 A -, S. 12 ff. d. amtl. Abdr.). Lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, intersexuelle und queere Personen (LSBTIQ-) Personen berichteten im Jahr 2021 von Stigmatisierung und Zwangsverheiratung in heterosexuelle Ehen durch ihre Familien sowie sexuelle Übergriffe aufgrund ihrer sexuellen Orientierung (vgl. USDOS, a. a. O.). Es besteht zudem eine tief verwurzelte religiöse und kulturelle Tabuisierung homosexueller Handlungen und LSBTIQ-Personen waren im Jahr 2021 Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgesetzt (vgl. USDOS, a.a.O.; umfassend und mit weiteren Nachweisen zur Lage Homosexueller in Guinea bis 2018 bzw. 2019 auch VG Düsseldorf, Urteil vom 31. Juli 2019 - 7 K 12946/17. A -, Rn. 42 ff. und Rn. 55 ff., VG Minden, Urteil vom 19. Juni 2018 - 10 K 3952/16 A -, juris, Rn. 42 ff; im Ergebnis ebenfalls sowohl eine Verfolgungsgefahr durch den Staat als auch durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der guineische Staat wirksamen Schutz hiervor biete, bejahend VG Berlin, Urteil vom 12. Juni 2019 - VG 31 K 289.17 A -, S. 5 d. amtl. Abdr.). Gesetze gegen Diskriminierung gelten nicht für LSBTIQ-Personen (vgl. USDOS, a.a.O.; Freedom House, Freedom in the World 2020 – Guinea, Stand: 4. März 2020, F4) und aufgrund des kulturellen Stigmas gibt es keine Betätigung offen homosexueller Personen im politischen Bereich (vgl. USDOS, a.a.O., Abschnitt 3, Teilhabe von Frauen und Minderheiten).
32 Das Gericht ist auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel auch davon überzeugt, dass der guineische Staat und seine Institutionen nicht in der Lage oder Willens sind, homosexuelle Männer vor Übergriffen durch Privatpersonen zu schützen (so in einem vergleichbaren Fall wohl auch VG Cottbus, Urteil vom 27. Juli 2021, VG 4 K 559/18.A, S. 5 des amtl. Abdr.). Zwar sind nach Angabe vieler Quellen in den letzten zwei Jahren keine Fälle staatlicher Strafverfolgung bekannt geworden (vgl. USDOS, Annual Report on Human Rights in 2021, a. a. O.: "keine Fälle im Jahr 2021"; zuletzt 2019: "Mindestens zwei Personen, einschließlich eines 14-Jahre alten Jungen, wurden am 18. August [2019] aufgrund ihrer tatsächlichen oder zugeschriebenen sexuellen Orientierung verhaftet und gemäß den Strafvorschriften gegen Unanständigkeit, die "unnatürliche Akte" enthalten, angeklagt. Im Oktober wurde die Anklage gegen den Jungen fallen gelassen und er wurde freigelassen.", vgl. Amnesty International, Human Rights in Africa: Review of 2019 – Guinea, Stand: 8. April 2020, S. 3, entsprechende Informationen auch in UDSOS, Annual Report on Human Rights in 2019, Stand: 11. März 2020, ). Ob dies bedeutet, dass homosexuelle Männer in Guinea aktuell keine Strafverfolgung (mehr) wegen ihrer sexuellen Orientierung befürchten müssen, kann offen bleiben. Denn jedenfalls sind staatliche Institutionen nach aktueller Kenntnislage nicht Willens und/oder fähig, homosexuellen Männern bei Übergriffen durch private Akteure Schutz zu gewähren. Homosexuelle Personen sind bereits durch die Strafbarkeit homosexueller Handlungen in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, sich schutzsuchend an staatliche Behörden zu wenden, da sie sich dadurch aufgrund der geltenden Gesetzeslage und der unklaren Lage hinsichtlich der Anwendung der entsprechenden Strafvorschriften jedenfalls der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen müssten. Für eine (jedenfalls abstrakt) drohende Strafverfolgung spricht auch, dass das Büro für den Schutz von Frauen, Kindern und Moral (Office for the Protection of Women, Children, and Morals) als Teil des Sicherheitsministeriums eine Einheit für die Ermittlung moralischer Verfehlungen einschließlich homosexueller Handlungen umfasst (vgl. USDOS, Annual Report on Human Rights in 2021, a.a.O.). Homosexuelle und andere LSBTIQ-Personen sind in Guinea zudem willkürlicher Verhaftung, Gewalt und Belästigung durch Sicherheitskräfte ausgesetzt, die sie beschuldigten, die öffentliche Ordnung zu gefährden (vgl. USDOS, Annual Report on Human Rights in 2021, a.a.O.). Es ist vor diesem Hintergrund nicht davon auszugehen, dass staatliche Behörden sie zuverlässig vor Angriffen durch private Akteure schützen würden.
33 Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der bisherige guineische Präsident Alpha Condé im Zuge des Militärputsches vom 5. September 2021 festgesetzt und faktisch entmachtet wurde. Nach aktueller Erkenntnislage besteht zwar kein hinreichender Anlass zu der Befürchtung, das Militärregime ziele auf eine Politik der staatlichen Unterdrückung und Verfolgung bestimmter politischer oder sonstiger Gruppierungen ab. Im Gegenteil wurde der Anführer der Putschisten, der Chef der Spezialkräfte - und heutige Interimspräsident (vgl. Briefing Notes des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamtes vom 11. Oktober 2021, S. 4) - Oberstleutnant Mamady Doumbouya in den Medien dahingehend zitiert, dass eine "nationale Konsultation" eingeleitet werden solle, um "einen umfassenden und friedlichen Übergang zu ermöglichen" und "gemeinsam eine neue Verfassung <zu> schreiben", die "dieses Mal für ganz Guinea" gelten solle (vgl. welt.de, Militär in Guinea putscht gegen Regierung und nimmt Präsidenten gefangen, 6. September 2021). Am 25. Dezember 2021 legte der Premierminister der Interimsregierung, Mohamed Béavogui, zudem einen Plan zur politischen Neuordnung vor. Dieser umfasst fünf inhaltliche Schwerpunkte und die Etappen "Bildung eines Übergangsrates", "Erarbeiten einer neuen Verfassung", "Einrichtung einer Verwaltung für Wahlen", "Erstellen eines Wählerverzeichnisses", "Organisation des Verfassungsreferendums", "Lokalwahlen, Parlamentswahl und Präsidentschaftswahl". Hinweise darauf, dass die Militärregierung plant, die Strafbarkeit von Homosexualität aufheben und/ oder zeitnah Bemühungen entfalten wird, um die Rechte und die Sicherheit von homosexuellen Personen zu stärken, liegen jedoch nicht vor.
34 Da die vorstehenden Erkenntnisse sich nicht lediglich auf einzelne Landesteile beschränken, stehen dem Kläger auch keine inländischen Fluchtalternativen (vgl. § 3e AsylG) zur Verfügung. Relevante regionale Unterschiede hinsichtlich der Situation Homosexueller in Guinea sind nicht ersichtlich. Es ist nicht erkennbar, dass Personen, die offen homosexuell leben, an bestimmten Orten in Guinea sicher vor Übergriffen durch Privatpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung sind. [...]