VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 12.12.2022 - 27 K 3867/19.A - asyl.net: M31645
https://www.asyl.net/rsdb/m31645
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinerziehende Frau aus Nigeria:

1. 70 % der Bevölkerung Nigerias lebt am Existenzminimum, viele Menschen haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem oder zu Wasser und Strom. Von dieser Situation ist die Gruppe der alleinstehenden Frauen im besonderen Maße betroffen.

2. Zwar ist es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht gänzlich unmöglich, sich beispielsweise im Südwesten des Landes oder in größeren Städten eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften. Die Situation alleinstehender Frauen hängt ganz erheblich von ihren persönlichen Voraussetzungen und Beziehungen zu Verwandten, Freunden und Institutionen wie der Kirche ab. Alleinstehende Frauen sind an fremden Orten in Nigeria von Menschenhandel und Zwangsprostiution bedroht.

3. Die Klägerin verfügt über keinerlei Ausbildung und ist aufgrund ihrer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung nicht in der Lage, zu arbeiten. Überdies müsste sie die Existenzgrundlage auch für ihr Kind erwirtschaften und kann nicht auf ein tragfähiges familiäres Netzwerk zurückgreifen, das sie und ihr Kind unterstützen würde, sodass ihr bei Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verelendung drohen würde und das Bestehen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Bremen, Urteil vom 22.08.2022 - 4 K 1085/20 - asyl.net: M30991)

Schlagwörter: Nigeria, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, Frauen, Menschenhandel, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Sicherung des Lebensunterhalts, Existenzgrundlage, Verelendung, sozial-familiäre Beziehung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Zwar geht das Gericht nicht generell davon aus, dass grundsätzlich bei alleinstehenden Frauen mit einem Kleinkind eine solche Gefahr zu prognostizieren ist, denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen gibt es auch in Nigeria Frauen, die ökonomisch eigenständig alleine leben und auch mit oder ohne Hilfe Dritter überleben. Das Gericht hat aber im vorliegenden Einzelfall die Überzeugung gewonnen, dass konkret für die Klägerin als alleinstehende und den Kläger allein erziehende Frau auf Grund ihrer individuellen Voraussetzungen und konkreten Lebenssituation bei einer Rückkehr nach Nigeria mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer üblen und unangemessenen Behandlung besteht. Die Klägerin wäre ohne familiäre Unterstützung gezwungen, für sich und ihr Kind eigenständig eine wirtschaftliche Existenz in Nigeria aufzubauen. Dies wird ihr nach Überzeugung des Gerichts nicht gelingen.

Die wirtschaftliche Lage ist für einen großen Teil der Bevölkerung Nigerias schwierig. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, nach den vorliegenden Erkenntnissen 70 %, lebt am Existenzminimum. Viele Menschen haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem oder zu Wasser und Strom. Ein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Mittellose existiert nicht. [...]

Von dieser Situation ist im besonderen Maße die Gruppe der alleinstehenden Frauen betroffen, da nach der derzeitigen Erkenntnislage die Situation für diese Gruppe besonders schwierig ist. Bereits der größere Teil der von Armut betroffenen Bevölkerung sind Frauen. Die alleinstehenden Frauen sind darüber hinaus vielen Arten von Diskriminierung ausgesetzt und durch das Merkmal "alleinstehend“ vielfach stigmatisiert. Sie finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit in Nigeria, dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist. [...] Zwar ist es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht gänzlich unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden. [...] Auch in Lagos hängt die Situation alleinstehender Frauen ganz erheblich von deren persönlichen Voraussetzungen und existierenden Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Kirche, etc. ab. Darüber hinaus sind alleinstehende Frauen an fremden Orten von Prostitution und Menschenhandel bedroht - letzteres ist gerade in Nigeria ein großes Problem. Frauen werden schließlich immer wieder Opfer von Vergewaltigungen, sogar durch staatliche Sicherheitskräfte. [...]

Diese Risikofaktoren treffen auf die Klägerin - und damit jedenfalls mittelbar auch auf den Kläger - zu. Nach ihren Angaben, denen das Gericht Glauben schenkt, verfügt die Klägerin über keinerlei Ausbildung. Es ist nicht ersichtlich, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Nigeria an irgendeine eigenständige berufliche Tätigkeit zur Erreichung einer existenzsichernden Arbeit anknüpfen kann. Unabhängig davon müsste sie deutlich über das Existenzminimum hinausgehende Einnahmen erzielen, um die von ihr benötigten Medikamente erwerben und notwendige Behandlung beanspruchen zu können. Tatsächlich ist sie aber - auch hiervon ist das Gericht überzeugt - auf Grund ihrer Erkrankung überhaupt nicht in der Lage zu arbeiten. Die Klägerin leidet an einer schweren Form der Posttraumatischen Belastungsstörung, die aus medizinischer Sicht medikamentös behandelt werden muss. [...]

Es steht ferner zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin zum Aufbau einer Existenz nicht auf eine vorhandene - sie und das nichteheliche Kind unterstützende - Familienstruktur zurückgreifen kann. Die Klägerin wäre im Falle ihrer Rückkehr mit ihrem Kind auf sich selbst gestellt. [...]