VG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 22.08.2022 - 4 K 1085/20 - asyl.net: M30991
https://www.asyl.net/rsdb/m30991
Leitsatz:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Nigerias wegen drohender Verelendung für alleinstehende Mutter von zwei Kindern:

Angesichts der allgemein problematischen wirtschaftlichen Lage in Nigeria liegt es fern, dass die alleinstehende Klägerin den Lebensunterhalt für sich und ihre beiden Kinder in Nigeria selbständig durch eigene Arbeit sichern kann. Auf Unterstützung von Familienangehörigen ist die Klägerin nicht zu verweisen, weil zu befürchten steht, dass diese auf die Genitalverstümmelung der Tochter der Klägerin drängen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Münster, Urteil vom 22.08.2022 - 5 K 3492/21.A - asyl.net: M30931)

Schlagwörter: Nigeria, alleinerziehend, Abschiebungsverbot, alleinstehende Frauen, Kindeswohl, Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

1. Der Bescheid des Bundesamtes vom 27.05.2020 ist rechtmäßig, soweit mit diesem die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Zuerkennungen subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). [...]

Gegen die Gefahr einer erneuten weiblichen Genitalverstümmelung spricht schon, dass bei der Klägerin auch bei der Geburt ihres zweiten Kindes im Jahr 2013 keine (weitere) Genitalverstümmlung vorgenommen worden ist. Der Klägerin zu 1) ist es zudem auch in der mündlichen Verhandlung nicht gelungen, eine (Vor-)Verfolgung auch nur ansatzweise zu substantiieren. [...]

2. Im Übrigen ist der angefochtene Bescheid jedoch rechtswidrig. [...]

Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Nigeria ist nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln problematisch. Im Zuge der Auswirkungen der Corona-Pandemie wurde die nigerianische Wirtschaft schwer vom Verfall des Erdölpreises als wichtigstes Wirtschaftsprodukt getroffen. Speziell für die breite Bevölkerung ist die finanzielle Lage in Nigeria schlecht. Die Einkommen sind stark ungleich verteilt, 40 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Dabei ist die Armut auf dem Land größer als in den städtischen Ballungsgebieten. Auch die Arbeitslosigkeit ist nach den letzten verfügbaren Zahlen hoch. Mangels lohnabhängiger Arbeit gehen zunehmend mehr Nigerianer einer selbstständigen Arbeit im informellen Wirtschaftssektor nach. Diese und die Unterstützung der Großfamilien trägt die Last der sozialen Sicherung. Allgemein ist dennoch anzunehmen, dass eine nach Nigeria zurückkehrende Person - auch wenn sie keine Sicherheit in einem Familienverband findet - sich ihre existenziellen Grundbedürfnisse durch selbstständige Arbeit sicher kann. [...]

Dass die alleinstehende Klägerin zu 1) den Lebensunterhalt für sich und ihre beiden Kinder, mit denen sie im Bundesgebiet zusammenlebt, in Nigeria selbständig durch eigene Arbeit sichern könnte, liegt angesichts des notwendigen Betreuungsbedarfs ihrer Kinder fern. Dass die Kläger auf die finanzielle Unterstützung durch Familienangehörige verwiesen werden könnten, kann nicht festgestellt werden. Die Klägerin zu 1) hat glaubhaft vorgetragen, dass ihre Familie in Nigeria bereits am Rande des Existenzminimums lebt. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Familie auch noch die Klägerin zu 1) und ihre beiden Kinder finanziell unterstützen könnte. Losgelöst davon ist zu berücksichtigen, dass die Kläger bereits nicht darauf verwiesen werden können, sich zur Familie der Klägerin zu 1) zu begeben. Denn nach dem glaubhaften Vorbringen der Klägerin zu 1) steht zu befürchten, dass die Familie der Klägerin zu 1) auf eine weibliche Genitalverstümmelung der im [...] 2021 geborenen Tochter der Klägerin zu 1) drängen würde. Es kann den Klägern folglich nicht zugemutet werden, sich in die Nähe der Familie der Klägerin zu 1) zu begeben. Die Kläger würden daher in einer Gesamtschau auch bei Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen absehbar verelenden. [...]