VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 27.04.2023 - 6 K 8857/17.A - asyl.net: M31621
https://www.asyl.net/rsdb/m31621
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Afghanistan wegen "Verwestlichung":

1. Afghanischen Frauen, die längere Zeit im westlichen Ausland gelebt haben, drohen im Einzelfall auch ohne Vorverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen in Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die zumindest kumulativ einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleichkommen, § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

2. Da die Klägerin seit mehr als acht Jahren in der Bundesrepublik lebt, engagiert Deutsch lernt, selbständig berufliche Ziele verfolgt und familiäre Angelegenheiten regelt, ist davon auszugehen, dass sie gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zur sozialen Gruppe der Frauen gehört, deren Identität aufgrund eines mehrjährigen Aufenthalts in Europa westlich geprägt ist. Hinzu kommt, dass sie bereits in Afghanistan einen von den Verhaltensregeln der Taliban distanzierten Lebensstil gepflegt und insbesondere ihren Partner selbständig gewählt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verwestlichung, Taliban, westlicher Lebensstil,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
Auszüge:

[...]

Ausgehend hiervon steht der Klägerin ungeachtet einer Vorverfolgung jedenfalls deswegen ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, weil ihr im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Taliban droht.

Die Einzelrichterin geht angesichts der derzeitigen Erkenntnislage davon aus, dass afghanische Frauen, die längere Zeit im westlichen Ausland gelebt haben, in Afghanistan nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch Akteure i.S.v. § 3c AsylG zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG), drohen. [...]

Die Situation für Frauen hat sich seit der Machtübernahme der Taliban erneut drastisch verschlechtert. Frauen und Mädchen werden gegenüber Männern in vielen Lebensbereichen systematisch benachteiligt. [...]

Die Klägerin gehört insbesondere nach dem persönlichen Eindruck, den die Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, sowie ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zu der sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität aufgrund eines mehrjährigen Aufenthalts in Europa westlich geprägt ist (oder denen eine solche Prägung jedenfalls durch die Verfolger zugeschrieben wird).

Die Klägerin hält sich inzwischen seit mehr als acht Jahren in der Bundesrepublik und damit im westlichen Ausland bei den - aus Sicht der Taliban - "Ungläubigen" auf. Hier hat sie ihren jüngeren Sohn ... und ihre Tochter ... zur Welt gebracht. Ferner lernt die Klägerin engagiert deutsch. Sie besucht zum Zwecke des Spracherwerbs Sprachkurse und ein sog. "Frauencafé". Zudem hat die Klägerin für die Einzelrichterin in jeder Hinsicht nachvollziehbar und glaubhaft zum Ausdruck gebracht, dass sie bestrebt ist, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. So verfolgt sie berufliche Ziele und ist - anders als ihr Mann - Inhaberin einer Fahrerlaubnis. Angelegenheiten, die ihre Kinder betreffen, regelt grundsätzlich die Klägerin. So nimmt sie - ohne ihren Mann - etwa an den Elternabenden in der Schule ihrer Kinder teil.

Hinzu kommt, dass die Klägerin - bereits in Afghanistan - einen deutlich erkennbar von den Verhaltensregeln der Taliban distanzierten Lebensstil gepflegt hat. Dies kommt zum einen darin zum Ausdruck, dass sie sich einer ihr drohenden Zwangsheirat mit einem von ihrer Familie ausgesuchten Mann widersetzt hat, indem sie - gemeinsam mit ihrem Mann - zunächst aus dem elterlichen Haushalt und sodann über den Iran nach Deutschland geflohen ist. Zum anderen findet ihre Ablehnung der von den Taliban angestrebte und durch die diversen Verhaltensregeln für Frauen implementierte patriarchale Gesellschaftsordnung darin Ausdruck, dass die Klägerin eine Familie mit einem von ihr ausgewählten Partner gegründet hat. [...]

Vor diesem Hintergrund ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass es der Klägerin nicht zuzumuten ist, sich den von den Taliban in Afghanistan vorgegebenen Verhaltensregeln für Frauen zu unterwerfen und die erheblichen Einschränkungen ihrer Rechte hinzunehmen. Der Klägerin steht auch keine interne Schutzalternative gemäß § 3e AsylG zur Verfügung. [...]