OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 30.05.2023 - 4 EO 208/23 - asyl.net: M31603
https://www.asyl.net/rsdb/m31603
Leitsatz:

Bei Anordnung aufschiebender Wirkung lebt Fiktionswirkung nicht wieder auf:

Beantragt eine Person, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, so gilt der Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag gemäß § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG als erlaubt. Im Moment der Ablehnung des Antrags erlischt diese Fiktionswirkung und lebt auch bei Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels gegen die Ablehnung nicht wieder auf. Vielmehr ist in diesem Fall der Aufenthalt zu dulden.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.05.2021 - 11 S 2891/20 - asyl.net: M29707; OVG Bremen, Beschluss vom 17.09.2010 - 1 B 140/10 - asyl.net: M17753)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Klage, Suspensiveffekt, aufschiebende Wirkung, Fiktionsbescheinigung, Fiktionswirkung, Duldung, Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Verfahrensduldung
Normen: AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 81 Abs. 5, AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1, VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 58 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 84 Abs. 2 S. 1, UkraineAufenthÜV § 2 Abs. 1, UkraineAufenthÜV § 2 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG liegen nicht vor.

a. Denn die zunächst mit der Antragstellung eingetretene Fiktionswirkung als Voraussetzung für die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung ist durch Erlass des Bescheides vom 25. November 2022 nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erloschen.

Vorliegend war der Aufenthalt des am 2022 nach Deutschland eingereisten Antragstellers im Bundesgebiet nach § 2 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 der Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung vom 7. März 2022 - UkraineAufenthÜV - zunächst rechtmäßig, weil er vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit war.

Da er am 19. März 2022 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt hatte, galt sein Aufenthalt zunächst bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG [...] als erlaubt [...].

Für die Dauer des behördlichen Verfahrens auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wird durch § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein gesetzliches Aufenthaltsrecht begründet, um den Aufenthalt des Ausländers aus Gründen effektiven Rechtsschutzes für die Dauer des behördlichen Verfahrens, dessen Dauer in den Händen der Ausländerbehörde liegt, zu legalisieren (vgl. GK-AufenthG § 81 Rn. 65 ff.). Ohne diese Regelung bliebe ein Ausländer trotz gestellten Antrages - weil er über keinen Aufenthaltstitel verfügt - nach § 50 Abs. 1, 2 AufenthG zur Ausreise verpflichtet. [...]

Mit Ablehnung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels durch Bescheid vom 25. November 2022 ist nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ("bis zur Entscheidung ...als erlaubt") die mit Stellung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels verbundene Erlaubnisfiktion kraft Gesetzes erloschen. Eines entsprechenden Ausspruches in der ablehnenden Entscheidung, einer entsprechenden Verfügung oder gar Feststellung, hat es nicht bedurft. Mit Erlass des ablehnenden Bescheides ist der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig geworden (§ 50 Abs. 1 AufenthG); seine Klage gegen die Ablehnung des Aufenthaltstitels hatte zunächst entgegen dem in § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehenen Grundsatz nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung [...].

b. Die erloschene Fiktionswirkung lebt auch nicht als Folge der Aussetzung der Vollziehung durch die Antragsgegnerin nach § 80 Abs. 4 VwGO auf.

aa. Insofern ist zunächst festzuhalten, dass die Antragsgegnerin nicht bereits im ablehnenden Bescheid die Vollziehung ausgesetzt hat.

Soweit sie in Ziff. 3 Satz 2 des Bescheidtenors bestimmt hat, dass die Ausreisefrist im Falle der Klage erst mit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens beginne, berührt dies nicht die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Antragstellers (allgemein zur Abgrenzung von Vollzieh- und Vollstreckbarkeit der Ausreisepflicht: GK-AufenthG § 58 Rn. 17 ff.). Da der Lauf der Ausreisefrist erst mit Bestandskraft des Bescheides beginnt, wird nur die Vollstreckbarkeit der Ausreisepflicht durch Abschiebung gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verhindert.

bb. Jedoch hat die Antragsgegnerin durch Schriftsatz vom 23. Januar 2023 im erstinstanzlichen Verfahren erklärt, sie habe durch Ziff. 3 von ihrer Befugnis aus § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO zur Aussetzung der Vollziehung des Verwaltungsaktes Gebrauch gemacht. Zugunsten des Antragstellers ist davon auszugehen, dass sie insoweit nachträglich die Vollziehung ausgesetzt hat. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Fiktionswirkung dadurch nicht wiederauflebt.

Mit der Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde - wie auch durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Gericht - wird nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zwar die Ausreisepflicht vorläufig nicht mehr vollziehbar (Bergmann/ Dienelt/Dollinger, 14. Aufl. 2022, fortan: Dienelt, AufenthG § 58 Rn. 19). Dies berührt aber nicht das Fortbestehen der Ausreisepflicht an sich und das Erlöschen der Fiktionswirkung [...]): [...]

Die aufschiebende Wirkung, häufig auch als Suspensiveffekt bezeichnet, bedeutet, dass nach Erhebung von Widerspruch oder Anfechtungsklage sich der Verwaltungsakt vorläufig, d. h. bis zur Entscheidung über das Rechtsmittel, in einer Art Schwebezustand befindet und nicht verwirklicht werden kann [...]. Nach herrschender und in der Rechtsprechung nahezu einhellig vertretener Auffassung, die auch der Senat vertritt, lassen Widerspruch und Anfechtungsklage die Wirksamkeit des Verwaltungsakts unberührt. Die aufschiebende Wirkung bedingt lediglich eine Vollziehungshemmung des angefochtenen Verwaltungsakts (BeckOK VwGO, § 80 Rn. 25).

Für das Rechtsgebiet des Ausländerrechts hat der Gesetzgeber durch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine - im Vergleich zur allgemeinen Regelung des § 80 Abs. 1, 5 VwGO - spezial-gesetzliche Regelung zu Bedeutung und Reichweite der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendenden Verwaltungsakt erlassen [...].

Sinn und Zweck der Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist es, eine bereichsspezifische Einschränkung des Grundsatzes des allgemeinen Verfahrensrechtes zu schaffen, wonach für die Dauer des Anfechtungsverfahrens keine an den angefochtenen Verwaltungsakt anknüpfenden rechtlichen Folgerungen gezogen werden dürfen (Hailbronner, AufenthG § 84, juris Rn. 49). Der Gesetzgeber hat insoweit spezialgesetzlich geregelt, dass nur die Vollziehung oder Vollstreckung (der fortbestehenden gesetzlichen Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG) im engeren Sinne nach Eintritt der aufschiebenden Wirkung unzulässig sein soll [...]. Wegen der aufgrund § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührten Tatbestandswirkung der ergangenen ablehnenden Entscheidung verhindert die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht den Eintritt von Rechtsfolgen, die das Gesetz an die Tatsache des Erlasses des besagten Verwaltungsaktes knüpft. [...]

Durch § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG wird bestimmt, dass eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht eintritt, wenn der Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird. [...] Die bloße Suspendierung der Vollziehbarkeit der ablehnenden Entscheidung im Eilverfahren führt mithin nicht zu einer Unterbrechung der Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes seit Ergehen der ablehnenden Entscheidung. Erst eine obsiegende behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache beseitigt die Wirksamkeit der ablehnenden Entscheidung, lässt die Fiktionswirkung ex tunc wiederaufleben und führt nachträglich zur Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers in der Zeit zwischen Erlass der Entscheidung und deren Aufhebung in der Hauptsache [...].

Ferner spricht für das Erlöschen und gegen das Wiederaufleben der Fiktionswirkung - trotz einer Aussetzung der Vollziehung bzw. trotz einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung - auch die Regelung des [...] § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG [...]. Danach gilt für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel in den Fällen des § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend, u. a. solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. [...] Dieser Regelung hätte es nicht bedurft, wenn das Wiederaufleben der Fiktion oder die Fiktion der Fiktion mit dem Eintritt der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs einträte. [...]