OVG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2023 - 3 N 18/23 - asyl.net: M31587
https://www.asyl.net/rsdb/m31587
Leitsatz:

Drohende unmenschliche Behandlung in EU-Mitgliedstaat kann Frage grundsätzlicher Bedeutung sein:

1. Ob einer Person, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde, in diesem Mitgliedstaat bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta droht, kann eine Frage grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG sein, sodass die Berufung zuzulassen ist.

2. Der von Obergerichten und einem anderen Senat des OVG Berlin-Brandenburg vertretenen Auffassung, dass die Frage einer solchen drohenden Verletzung von Art. 4 GR-Charta immer von den individuellen Umständen des Einzelfalles abhänge, sodass eine Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung ausscheide, wird nicht gefolgt. Diese Auffassung verkennt, dass nicht ausgeschlossen ist, dass die Verhältnisse in einem Mitgliedstaat für alle Rückkehrenden eine Situation extremer materieller Not bedeuten können, sodass für jede Person die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GR-Charta besteht. Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Auseinandersetzung mit Erkenntnismitteln im Berufungsverfahren und darf nicht im Verfahren über die Zulassung der Berufung vorweggenommen werden.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.03.2022 - 6 N 35/22 - asyl.net: M31180; unter Bezug auf: VGH Hessen, Beschluss vom 08.12.2020 - 5 A 2391/18.Z.A - asyl.net: M29298)

Schlagwörter: Italien, Berufungszulassungsantrag, internationaler Schutz in EU-Staat, Berufung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AsylG § 78 Abs. 2
Auszüge:

[...]

II. Ungeachtet dessen hält es der Senat - auch angesichts der divergierenden Rechtsprechung innerhalb des OVG Berlin-Brandenburg - für angebracht darauf hinzuweisen, dass er an seiner ständigen Entscheidungspraxis in asylrechtlichen Zulassungsverfahren, in denen es um Sekundärmigration betreffende Grundsatzrügen geht, festhält. Danach kann der Tatsachenfrage, ob einem Kläger, dem in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden ist, in diesem Mitgliedstaat bei seiner Rückkehr oder Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh droht, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zukommen.

Soweit teilweise die Auffassung vertreten wird, die Beantwortung dieser Frage sei keiner allgemeinen Klärung zugänglich, weil sie (stets) von den Umständen des Einzelfalles, nämlich einer Vielzahl von individuellen Umständen und Faktoren, abhänge (so z.B. in Bezug auf Italien OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. März 2022 - OVG 6 N 35/22 - juris; Beschluss vom 19. Mai 2022 - OVG 12 N 67/21 - nicht veröffentlicht; Beschluss vom 16. Dezember 2022 - OVG 1 N 91/21 - nicht veröffentlicht; ferner OVG Saarlouis, Beschluss vom 2. September 2020 - 2 A 74/20 - juris Rn. 14 f.; in Bezug auf Bulgarien OVG Saarlouis, Beschluss vom 13. April 2022 - 2 A 13/22 - juris Rn. 12 f.; in Bezug auf Italien und Art. 3 EMRK OVG Koblenz, Beschluss vom 31. August 2020 - 7 A 11602/19.OVG - juris Rn. 11; in Bezug auf Griechenland VGH München, Beschluss vom 14. März 2022 - 24 ZB 21.30317 - juris), folgt der Senat dem nicht (im Ergebnis ebenso z.B. VGH Kassel, Beschluss vom 8. Dezember 2020 - 5 A 2391/18.Z.A - juris). Diese These sowie die daraus abgeleitete Annahme, die Frage lasse sich nicht abstrakt und allgemein (für die in einen EU-Mitgliedstaat zurückkehrenden Schutzberechtigten) klären, berücksichtigt zunächst nicht hinreichend, dass ein nicht (mehr) von individuellen Umständen abhängiger Verstoß gegen Art. 4 GRCh schon denklogisch nicht ausgeschlossen ist, sodass eine Verallgemeinerungsfähigkeit gegeben sein kann. Die Behauptung, alles hänge stets (nur) von den individuellen Umständen des Einzelfalles ab, setzt bereits eine Verneinung der Frage voraus, ob die tatsächlichen Verhältnisse für sämtliche Rückkehrer in dem Mitgliedstaat der ersten Asylantragstellung eine Situation extremer materieller Not bedeuten, aufgrund derer die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh für jede Rückführung besteht. Die Beantwortung - Bejahung oder Verneinung der Frage - erfordert eine auf Erkenntnismittel gestützte Bewertung der tatsächlichen Situation im Staat der ersten Asylantragstellung, die im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich nicht im Berufungszulassungsverfahren vorweggenommen werden darf. [...]