Flüchtlingsschutz für Deserteur aus Syrien:
Anders als bei der Wehrdienstentziehung droht bei der Desertion ("Fahnenflucht" - Entziehung aus dem aktiven Militärdienst) eine flüchtlingsrelevante Verfolgung, weil der desertierten Person eine regimefeindliche Gesinnung unterstellt wird.
(Leitsätze der Redaktion; siehe zur Wehrdienstentziehung BVerwG, Urteil vom 19.01.2023 - 1 C 1.22 - asyl.net: M31239)
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2. Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil seine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruht, die erst eingetreten sind, nachdem er sein Herkunftsland verlassen hat, sodass sog. Nachfluchtgründe im Sinne von § 28 Abs. 1a AsylG vorliegen.
2.1. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht allerdings nicht schon allein deswegen, weil der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat und sich seit dem hier illegal aufhält.
Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse, wie sie im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen haben, geht die Kammer in ihrer ständigen Rechtsprechung davon aus, dass Flüchtlingen aus Syrien bei einer - unterstellten - Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle wegen ihrer illegalen Ausreise, der Beantragung von Asyl in Deutschland und eines damit verbundenen Aufenthalts hier, keine politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihnen deshalb eine Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Syrien unzumutbar wäre (vgl. u. a. U. v. 22.02.2017 - 1 K 21227/16 Me -, juris). [...]
2.2. Eine Rückkehrgefährdung besteht für den unverfolgt ausgereisten Kläger ausgehend von den vorstehenden Ausführungen jedoch unter dem Gesichtspunkt gefahrerhöhender Umstände (Risikofaktoren).
Ein solcher Risikofaktor ist nach Ansicht der Einzelrichterin vorliegend darin zu sehen, dass sich der Kläger dem aktiven Wehrdienst entzogen und damit der "Falmenflucht" schuldig gemacht hat. Ihm droht als Deserteur - anders als einem sog. einfachen Wehrdienstentzieher (s. hierzu im Einzelnen ThürOVG, a.a.O., juris, Rdnr. 88) - im Falle seiner hypothetischen Rückkehr nach Syrien eine flüchtlingsrechtlich relevante Strafverfolgung oder Bestrafung. [...]
Für den vorliegenden Fall der qualifizierten Wehrdienstverweigerung als Deserteur ergibt sich aus den dem Gericht zugrunde liegenden Erkenntnisquellen jedoch ein anderes Bild:
Für Desertion sieht Artikel 101 des syrischen Military Penal Code fünf Jahre Haft vor, beziehungsweise fünf bis zehn Jahre Haft, wenn ein Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe nach dem Gesetz 15 Jahre; Desertion im "Angesicht des Feindes" wird gemäß Artikel 102 des Military Penal Code mit lebenslanger Haft beziehungsweise - bei Überlaufen zum Feind - mit Exekution bestraft (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, S. 135; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 29.11.2021, S. 15; Bundesamt für Fremdenwesen [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation - Syrien, 29.12.2022, S. 115 f.). Im Gegensatz dazu steht auf die einfache Wehrdienstentziehung einer Person, die noch nicht in das militärische System eingegliedert ist, gemäß Art. 98 des Military Penal Code eine Haftstrafe von sechs Monaten in Friedens- und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten (vgl. BFA, a.a.O., S. 115, AA, a.a.O., S. 15). [...]
Nach Überzeugung der Einzelrichterin liegen jedenfalls im konkreten Fall des Klägers aufgrund seiner Desertion gefahrerhöhende Umstände vor, die eine Bestrafung oder Strafverfolgung in Anknüpfung an einen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe im Falle seiner hypothetischen Rückkehr beachtlich wahrscheinlich erscheinen lassen. Dem Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politisch oppositionelle Haltung durch die Regierung zugeschrieben werden. [...]
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen droht tatsächlichen oder vermeintlichen Anhängern der syrischen Oppositionsbewegungen weiterhin die konkrete Gefahr der willkürlichen Inhaftierung zu menschenunwürdigen Bedingungen und der Misshandlung bis hin zur Folter und der willkürlichen Tötung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 29.11.2021, S. 13 ff.; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, S. 101 ff.; EASO, Country of Origin Report on Syria: Targeting of Individuals, März 2020, S. 14 ff.; s. auch ThürOVG, U. v. 16.06.2022- 3 KO 178/21 -, juris, Rdnr. 135). Deserteure werden oftmals mit Anhängern der Opposition gleichgesetzt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation - Syrien, 29.12.2022, S. 115; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, S. 102; EASO, Country Guidance: Syria, September 2020, S. 67; EASO, Country of Origin Report on Syria: Targeting of Individuals, März 2020, S. 37; Landinfo, Syria - Reactions against deserters and draft evaders, 03.01.2018, S. 10). Wie ausgeführt, wendet das syrische Regime zur Verfolgung von Deserteuren auch die sogenannte "Anti-Terror-Gesetzgebung" aus dem Jahr 2012 an (vgl. EASO, Syria - Military service - Country of Origin Information Report, April 2021, S. 36; DIS, "Syria - Military Service", Mai 2020, S. 33); Deserteure werden Berichten zufolge von Einheiten des syrischen Geheimdienstes inhaftiert (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation - Syrien, 29.12.2022, S. 115). Diese Umstände sprechen ebenfalls in erheblichem Maße dafür, dass die Bestrafung von Deserteuren jedenfalls auch aufgrund einer (unterstellten) regimekritischen Haltung des Betroffenen erfolgt. Auch der UNHCR geht davon aus, dass die Desertion beachtlich wahrscheinlich als regierungsfeindliche Handlung angesehen wird, die zu einer härteren als sonst üblichen Bestrafung führt, dies umso mehr, wenn weitere Merkmal in der Person des Deserteurs hinzutreten, die zu der Annahme mangelnder Regierungstreue oder der aktiven Unterstützung der Opposition führen (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, S. 101 ff.; S. 146; sog. Politmalus, vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. April 2009 - 2 BvR 78/08 -, juris; s. zu all dem auch VGH Baden-Württemberg, a.a.O., juris, Rdnr. 45). [...]