VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 05.04.2023 - 5 K 158/20 We (Asylmagazin 7-8/2023, S. 252 ff.) - asyl.net: M31581
https://www.asyl.net/rsdb/m31581
Leitsatz:

Abschiebungsverbot bei Erkrankung für Familie aus kurdischen Autonomiegebiet im Irak :

1. Zwar ist eine psychologische und psychiatrische Behandlung im Irak grundsätzlich möglich und in staatlichen Krankenhäusern kostenfrei, allerdings stellen Medikamentenengpässe ein ernsthaftes Problem dar und es bestehen zum Teil gravierende Mängel in der psychiatrischen Versorgung. Die ambulante Behandlung in staatlichen Krankenhäusern ist von mangelhafter Qualität, in privaten Kliniken ist sie kostenpflichtig.

2. Einer unter anderem an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer rezidivierenden depressiven Störung leidenden Person droht eine drastische Verschlechterung ihres Gesundheitszustands aufgrund von Medikamentenmangel und Wartezeiten. Unter anderem angesichts der finanziellen Belastung, die die Behandlung der Erkrankung des Familienmitglieds bedeutet, droht der betroffenen Familie eine existenzbedrohende Lage, sodass das Bestehen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Aachen, Urteil vom 09.07.2021 - 7 K 1577/18.A - asyl.net: M30003)

Schlagwörter: Irak, Abschiebungsverbot, Kurden, Nordirak, psychische Erkrankung, Krankheit, KRG, Suleimania, Existenzgrundlage, Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2
Auszüge:

[...]

3. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG sind jedoch nach Ansicht des Gerichts gegeben.

Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 8.09.2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319 - juris, Rn.17).

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. [...]

Das BVerwG hat in zwei Entscheidungen vom 11. September 2007 zur Substantiierung der Behauptung des Vorliegens einer behandlungsbedürftigen PTBS, angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptome, regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests verlangt. [...] Diese Rechtsprechung hat Niederschlag in § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz AufenthG gefunden (Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung).

Die vorgelegten Arztbriefe vom … 2021 und … 2021 genügen diesen strengen Anforderungen. Demnach liegen gesichert eine rezidivierende depressive Störung, eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Schmerzstörung mit somatischen und psychotischen Faktoren vor. Es erfolgte demnach eine qualifizierte Testung am … 2021 und am … 2021 durch Dipl.-Psych. ... nach dem Essener Traumainventar. In allen vier Unterskalen wurden hohe Werte erreicht. Die Ursachen der Erkrankungen werden klar benannt und der Verlauf ist ersichtlich.

Nach Überzeugung des Gerichts leidet die Klägerin zu 2.) daher an einer schweren psychischen Erkrankung, die einer intensiven medizinischen Betreuung bedarf.

Eine psychologisch/psychiatrische Behandlung ist im Irak nach einer dem Gericht vorliegenden Auskunft von Dr. med. ... vom … 2019 auf eine Anfrage des VG Münster vom 02.10.2019 zwar möglich und in staatlichen Krankenhäusern sogar kostenfrei.

Aus einer auf Auskunftsersuchen des VG Köln vom 27.04.2020 vorgelegten Liste des Kooperationsarztes des Auswärtigen Amtes, Dr. med. ... ("essential drug list 2019") geht weiter hervor, dass Medikamente zur Behandlung psychischer Krankheiten im Irak bzw. Kurdistan grundsätzlich vorrätig gehalten werden.

Allerdings stellen Medikamentenengpässe ein ernsthaftes Problem dar (UNHCR: Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019).

Die gravierenden Mängel in der psychiatrischen Versorgung in Sulaimaniyah werden in einem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe mit gleichem Namen vom 13.05.2020 bestätigt.

Demnach ist die ambulante Behandlung in staatlichen Krankenhäusern zwar kostenlos, jedoch von mangelhafter Qualität. In privaten Kliniken ist die Behandlung kostenpflichtig. Eine akute stationäre Behandlung ist zeitlich begrenzt und teilweise müssen Medikamente und komplizierte Behandlungen und Untersuchungen von den Patienten selbst bezahlt werden. Für eine langfristige stationäre Behandlung bestehen zum Teil lange Wartezeiten und die Ergebnisse lassen zu wünschen übrig.

Daher muss, wenn nicht sogar mit einer eine konkrete Gefahr für Leib und Leben der Klägerin zu 2.) aufgrund Suizidalität, zumindest mit einer drastischen Verschlechterung in Folge von Medikamentenmangel und Wartezeiten sowie mit einer erheblichen finanziellen Belastung der Familie gerechnet werden (vgl. hierzu auch VG Dresden, Urteil vom 26.05.2020 - 13 K 2022/18.A -, juris, Rn. 29-31). Ohne kostenaufwändige Behandlung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Rückkehr der bereits beobachteten Selbstmordneigung der Klägerin zu 2.) zu rechnen.

Daher liegt zumindest ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG, bezogen auf die Kläger insgesamt vor. [...]

Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass die humanitäre Lage auch in der Autonomen Region Kurdistan teilweise schwierig ist (so auch VG Oldenburg, Urteil vom 27.02.2018 - [...] -, juris, Rdnr. 62; VG Berlin, Urteil vom 25.01.2018 - 29 K 140.17 A -, juris, Rdnr. 48, 49). [...]

Nach Überzeugung des Gerichts werden die Kläger aufgrund der Summierung negativer Faktoren in eine existenzbedrohliche Lage geraten, die den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gem. Art. 3 EMRK erfüllt (vgl. zu ähnlich gelagerten Fällen gesteigerter Vulnerabilität: VG Stuttgart, Urteil vom 22.07.2021 - A 5 K 2161/19 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 03.04.2019 - 4 K 1853/16.A -, juris; VG München, Urteil vom 27.06.2022 - M 19 K 19.31286 -, juris).

Die Klägerin zu 2. wird aufgrund ihrer massiven psychischen Probleme nicht nur nicht zum Unterhalt der Familie beitragen können, sondern vielmehr der ständigen Betreuung und finanzieller Zuwendungen für Medikamente etc. bedürfen. Das minderjährige Kind … bedarf ebenfalls noch der Betreuung. Die Klägerin zu 3. ist zwar fast volljährig, jedoch liegt nach den o.a. Erkenntnisquellen die Arbeitslosenquote bei jungen Frauen besonders hoch (56 %). Der Kläger zu 1. hatte nach eigenen Angaben zwar eine gesicherte Anstellung als Polizeioffizier, jedoch dürfte er nach der Quittierung des Dienstes wohl nicht erneut angestellt werden. Aufgrund seines vorgerückten Alters wird er auch Schwierigkeiten haben, im privaten Sektor eine Anstellung zu finden. [...]