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VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 09.07.2021 - 7 K 1577/18.A - asyl.net: M30003
https://www.asyl.net/rsdb/m30003
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für psychisch erkrankten irakischen Staatsangehörigen:

1. Eine psychologische Psychotherapeutin ist fachlich hinreichend qualifiziert, psychische Erkrankungen zu diagnostizieren.

2. Das Attest entspricht den Vorgaben des § 60a Abs. 2c AufenthG, indem es den Zusammenhang zwischen den traumatischen Ereignissen und dem Trauma darlegt, sich kritisch mit den Erklärungen der erkrankten Person auseinandersetzt und diese erst nach weiterer Überprüfung zur Grundlage der Stellungnahme macht. Auch der Therapieverlauf und der weitere Behandlungsbedarf wurden nachvollziehbar dargestellt.

3. Im Irak steht ein begrenztes Angebot von Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen einem durch die langen Kriegsjahre hohen Bedarf gegenüber.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Attest, Facharzt, Psychotherapeut,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2c,
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist davon auszugehen, dass bei dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak, insbesondere nach Bagdad, die Gefahr einer Selbsttötung bzw. erheblichen Selbstverletzung aufgrund einer psychischen Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1 G) und einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (F32.2 G) besteht.

Dies steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der durchgeführten persönlichen Anhörung des Klägers und der vorgelegten Stellungnahmen der Psychologischen Psychotherapeutin ... vom … 2018, … 2021 und ... 2021 fest.

1.) Die das Attest ausstellende Psychologische Psychotherapeutin ... ist fachlich hinreichend qualifiziert, die festgestellten psychischen Erkrankungen zu diagnostizieren.

Neben Fachärzten sind auch Psychologische Psychotherapeuten aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation befähigt, psychische Erkrankungen, mithin auch posttraumatische Belastungsstörungen, zu diagnostizieren (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19. Dezember 2008 - 8 A 3053/08.A -, juris, Rn. 11 ff.).

2.) Die attestierende Psychotherapeutin hat plausibel und nachvollziehbar dargelegt, dass beim Kläger aufgrund traumatischer Ereignisse, vorliegend Inhaftierung und Foltergeschehen im Jahr 2009-2010 sowie Betroffenheit bei zwei Explosionen im Jahr 201;3 und 2015, ein interpersonales Trauma mit den Typ-II-Merkmalen vorliegt.

Das Gericht ist nach Durchführung der persönlichen Anhörung auch davon überzeugt, dass das vom Kläger behauptete Geschehen im Kern auf eigenem Erleben beruht. Zwar konnte der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung insbesondere im Hinblick auf die Zuschreibung der Verantwortung für die miterlebten Explosionen im Jahr 2013 und 2015 keine überzeugenden Ausführungen machen und auch nicht darlegen, dass ihm bei einer Rückkehr nunmehr eine weitere Verfolgung drohen könnte, dies mindert jedoch nicht die Überzeugung des Einzelrichters davon, dass der Kläger die geschilderten Explosionen miterlebt hat. Soweit fragwürdige Unklarheiten im Rahmen der Darstellung bei der Beklagten sich dem Protokoll entnehmen lassen, konnte der Kläger diese in der mündlichen Verhandlung im Rahmen des aufgrund des Zeitablaufs Erwartbaren ausräumen. Die Schilderungen sowohl des Inhaftierungsgeschehens im Jahr 2009 wie auch des Erlebens der Explosionen waren kontinuierlich im Kerngeschehen weitgehend widerspruchsfrei, von emotionaler Beteiligung getragen und mit originellen Details versehen. Diese Widerspruchsfreiheit zum Erleben der Folter und der Explosionen umfasst sowohl die Schilderungen bei der Beklagten, die jedoch auf eine genaue Erhebung des Erlebens des Klägers im Jahr 2009 verzichtet hat, die klägerischen Angaben gegenüber der psychologischen Psychotherapeutin ... und die Angaben des Klägers gegenüber der systematischen Traumatherapeutin ... Insbesondere die umfangreiche Erfassung der Traumaanamnese durch die systemische Traumatherapeutin vom … 2018 (Bl. 75-79 d. A.) lässt keine Anhaltspunkte erkennen, die für ein fehlendes Erleben des Klägers sprechen könnten, wenn auch das Gericht sich dabei bewusst ist, dass der Vortrag des Klägers insoweit bereits eventuell durch die Traumatherapeutin gefiltert und geordnet wurde (Bl. 75 d.A.).

Soweit für den Kläger ein rechtsmedizinisches Gutachten des Universitätsklinikums ... vom … 2018 vorgelegt wurde, stützt dies zwar nicht den Vortrag des Klägers, es steht ihm aber auch nicht entgegen. Nach dem rechtmäßigen Gutachten sind die festgestellten Befunde nach den Kriterien des Istanbul-Protokolls als übereinstimmend mit dem geschilderten Entstehungsmechanismus zu werten, d.h. die Verletzungen des Klägers können durch das beschriebene Trauma, hier die Folterungen im Jahr 2009, verursacht sein, sind jedoch nicht spezifisch, d.h. zumindest viele andere mögliche Gründe sind denkbar (Bl. 64 und 65 d.A.).

3.) Die attestierende Psychotherapeutin hat insoweit die vom Kläger gegebenen Erklärungen auch nicht unbesehen und ohne weitere Überprüfung zur Grundlage ihrer Stellungnahme gemacht. So war die Therapeutin sich des Zielkonflikts zwischen Wohlbefinden auf der einen und einem möglichen sicheren Aufenthalt des Klägers aufgrund psychischer Belastung auf der anderen Seite bewusst und hat dessen Aussage hinsichtlich Aggravation und Simulation kritisch betrachtet, jedoch überzeugend ausgeführt, dass das Krankheitsbild, die erfolgte Verhaltensbeobachtung und auch die beschriebene Scham mit hoher Sicherheit Übertreibungen und Simulation des Klägers ausschließe (Bl. 108 f. d.A.).

4.) Die attestierende psychologische Psychotherapeutin hat nachvollziehbar dargelegt, dass sie die erste Stellungnahme vom … 2018 bereits aufgrund von sieben zum Teil mehrstündigen Gesprächen sowie parallelen Terminen bei der Traumatherapeutin erstellt hat. Der weitere Therapieverlauf des Klägers wurde nachvollziehbar, auch in Hinblick auf die Therapiepause aufgrund des Einbruchs der Corona-Pandemie, in der Stellungnahme vom ... 2021 dargelegt (Bl. 106 bis 107 d.A).

5.) Ausweislich der vorgelegten Atteste ist davon auszugehen, dass der Kläger mindestens eine ambulante Psychotherapie, und bei Bedarf unterstützende pharmakologische Behandlung, von ursprünglich 2-3 Jahren benötigt. Das Gericht verkennt nicht, dass der Kläger mit dieser Therapie bei der psychologischen Psychotherapeutin ... nach der Erstellung der ersten Stellungnahme am … 2018 im Januar 2019 bereits angefangen hat und damit der ursprünglich geschätzte Zeitrahmen der Therapie bereits verstrichen ist. Im Rahmen der aktualisierenden Stellungnahme vom ... 2021 hat die psychologische Psychotherapeutin … jedoch nachvollziehbar dargelegt, dass einer erfolgreichen Therapie neben Rückschritten aufgrund der sozialen und psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auch der fehlende Abschluss des Asylverfahrens entgegengestanden hat und deshalb auch die für eine Besserung der Symptomatik erforderliche traumaadaptierte Psychotherapie noch nicht durchgeführt werden konnte (Bl. 108 d.A.), so dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von einer Behandlungsdauer von mindestens zwei weiteren Jahren auszugehen ist (Bl. 107 d.A.). Der Kläger hat auch in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass er sich aktuell mehrmals monatlich, teils in Abständen von einer Woche, teils in Abständen von zwei Wochen für mehrstündige Therapiesitzungen in Behandlung begibt.

6.) Der Kläger hat auch durch Vorlage der Stellungnahmen plausibel begründet, warum die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen worden sind. Dabei ist dem Kläger zuzugestehen, dass er bereits in der ersten Anhörung bei der Beklagten angegeben hat, psychologisch angeschlagen zu sein, sich zeitweise aufgegeben zu haben, und erste Selbstverletzungstendenzen geschildert hat (Bl. 230 d. A.). Dem Kläger kann auch nicht vorgehalten werden, er habe sich erst nach Ablehnung durch die Beklagte in ärztliche Behandlung gegeben. Ausweislich der Arbeitsbescheinigung der LVR-Klinik befand sich der Kläger bereits im Januar 2017, und damit lange vor der Anhörung bei der Beklagten, in der stationären Behandlung durch die LVR-Klinik … und erhielt dort bereits die Diagnose PTBS (Bl. 34 f d. BA). Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung, übereinstimmend mit den Angaben bei der psychologischen Psychotherapeuten, überzeugend angegeben, bereits erste Symptome der PTBS, insbesondere Albträume, im Irak entwickelt zu haben.

6.) Ausweislich der aktualisierenden und ergänzenden Stellungnahmen vom … 2021 und ... 2021 der Psychotherapeutin ... ist davon auszugehen, dass für den Kläger aufgrund der vorbeschriebenen psychischen Erkrankung es bei einer Rückkehr aktuell aufgrund der Konfrontation mit zahlreichen Trigger zu einer emotionalen Überlastung und Verstärkung des Gefühls der außerordentlichen Hilflosigkeit des Klägers käme, welche mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in eine Umsetzung der bereits jetzt durch den Kläger geäußerten Suizidabsichten münden würde. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger es aktuell schafft, sich von Suizidabsichten zu distanzieren, da zumindest für die Dauer des Verfahrens eine Abschiebung des Klägers tatsächlich nicht drohte.

7.) Es ist davon auszugehen, dass die Gefahr einer Selbsttötung des Klägers auch nicht durch eine im Irak stattfindende psychologische Behandlung beseitigt werden kann.

Nach den Erkenntnismitteln gibt es im gesamten Irak ca. 640 Fachkräfte für psychische Gesundheit. Auf eine Bevölkerung von 100.000 Menschen kommen 0,34 Psychiater, 1,22 Mitarbeiter des psychiatrischen Pflegepersonals ("mental health nurses"). 0,11 Psychologen und  0,09 Sozialarbeiter. Im Irak befinden sich 610 Einrichtungen für die ambulante Behandlung psychiatrischer Patienten, davon sind 34 innerhalb eines Krankenhauses verortet und 575 gemeindebasierte ("community based") Einrichtungen. Stationäre Behandlung von psychiatrischen Patienten ist in zwei psychiatrischen Kliniken sowie auf 22 Stationen allgemeiner Krankenhäuser verfügbar. Die Betreuung und Behandlung von Personen mit schwerwiegenden psychischen Störungen (Psychose, bipolare Störung, Depression) ist in den staatlichen Krankenkassen oder Erstattungssystemen nicht enthalten, Patienten müssen für Behandlungen und Medikamente selbst aufkommen. Es gibt nur wenige Tertiärkliniken, die sich mit psychischen Erkrankungen befassen, welche für die Bevölkerung schwer zugänglich sind. Zentren für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörung sind nicht vorhanden (vgl. ACCORD; Anfragebeantwortung zum Irak: Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen (z.B. bei posttraumatischer Belastungsstörung), Verfügbarkeit von Antidepressiva und (sedierenden) Antipsychotika, Verfügbarkeit von Medikamenten gegen Bluthochdruck bzw. Herzprobleme, 12. Februar 2019).

Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass aufgrund der Gewaltereignisse der vergangenen Jahrzehnte in Bezug auf die psychische Gesundheit ein enormer Bedarf bestehe und die verfügbaren Dienste der bestehenden Nachfrage nicht gerecht werden. So wurde im Rahmen von Studien der Universität Bagdad ermittelt, dass von 132 Menschen, die im von Januar bis Mitte Mai 2019 Selbstmord begangen haben, die Mehrheit vor ihrem Tod nicht um psychologische Hilfe angesucht habe. Dies deutet darauf hin, dass die bestehenden Systeme zur Erkennung von Risikopersonen nicht funktionieren (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Gesellschaftliche Wahrnehmung von psychisch Erkrankten; Stigmatisierung, schädigende Praktiken, religiöse Aspekte, Wunderheilung; Umgang von staatlichen Stellen/Institutionen mit psychisch Erkrankten, Diskriminierung [a-11250], 30. April 2020). [...]