VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 16.03.2023 - 3 K 801/21 (Asylmagazin 7-8/2023, S. 256 ff.) - asyl.net: M31574
https://www.asyl.net/rsdb/m31574
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen des Bürgerkriegs im Jemen:

1. Als Folge des innerstaaltichen bewaffneten Konflikts zwischen den Houthis und der Anti-Houthi-Koalition im Jemen ist praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt, sodass gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist.

2. Da im gesamten Staatsgebiet des Jemen von einem innerstaatlich bewaffneten Konflikt mit entsprechender Gefahrendichte auszugehen ist, ist eine interne Fluchtalternative nicht gegeben.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 13.04.2023 - 9 A 106/22 - asyl.net: M31575)

Schlagwörter: Jemen, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, Houthi, Anti-Houthi-Koalition, humanitäre Situation, Hunger, medizinische Versorgung, Krieg, Waffenruhe
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Kammer ist nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Erkenntnislage davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Jemen eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.

1. Im Jemen besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. [...]

Gemessen hieran herrscht im Jemen seit 2014 ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, an welchem unterschiedliche Konfliktparteien beteiligt sind, die insbesondere von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Iran unterstützt werden. Ausgangspunkt des Konflikts war der Vormarsch der Houthis auf die Hauptstadt Sanaa Mitte 2014, die sie im September 2014 weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht hatten. [...] Die Houthis drangen weiter Richtung Süden vor und erreichten schließlich Aden an der jemenitischen Südküste, woraufhin Präsident Hadi nach Saudi-Arabien floh. Nachdem er dort um internationale Intervention gebeten hatte, war auch das Land Saudi-Arabien in den Konflikt involviert, das eine Koalition von mehreren ihrer arabischen Verbündeten versammelte und eine Militäroffensive mit dem Ziel begann, Hadis Herrschaft wiederherzustellen und die Houthi-Kämpfer aus Sanaa und anderen wichtigen Städten zu vertreiben. [...]

Schwere Kämpfe zwischen den Houthi Rebellen und den regierungstreuen Kräften setzten sich Anfang des Jahres 2021 im Gouvernement Marib fort. Obwohl die gravierendsten Kämpfe im Distrikt Sirwah stattgefunden hatten, kam es auch nur wenige Kilometer von der Stadt Marib, der Hauptstadt des Gouvernements, zu bewaffneten Auseinandersetzungen. [...]

Die Kämpfe zwischen der Anti-Houthi-Koalition und den Houthi-Rebellen weiteten sich im August 2021 aus. [...]

Im November 2021 wurden laut UN OCHA bei Kämpfen zwischen den Houthis und der Anti-Houthi-Koalition in der Hafenstadt Hodeida über 25.000 Menschen vertrieben. Ende November 2021 führte die Anti-Houthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens mehrere Luftschläge gegen Ziele in Sanaa durch. Wenige Tage zuvor hatten die Houthis mehr als ein Dutzend Drohnen gegen Ziele in Saudi-Arabien abgefeuert. Im Dezember 2021 wurden laut einer Mitteilung des US-Justizministeriums durch die US-Marine bei einem Routineeinsatz im Persischen Golf mehr als eine Mio. Barrel Öl sowie Waffen beschlagnahmt, darunter Panzerabwehrraketen, wobei die Lieferung laut Justizministerium von den Iranischen Revolutionsgarden initiiert und für die Houthis bestimmt gewesen sein soll. Die Anti-Houthi-Koalition führte unter Führung Saudi-Arabiens Luftangriff gegen den Flughafen Sanaa durch. [...]

Im Januar 2022 gab die Anti-Houthi-Koalition bekannt, dass das Gouvernement Shabwa wieder vollständig unter Kontrolle der Regierung stehe. Kurze Zeit später führte die Anti-Houthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens erneut Luftschläge gegen Ziele der Houthis in der Hauptstadt Sanaa aus. [...]

Zwar begann Anfang April 2022 ein separat mit beiden Kriegsparteien von der UN ausgehandelter zweimonatiger Waffenstillstand, der eine teilweise Lockerung der saudischen See- und Luftblockaden umfasste, kommerzielle Passagierflüge zwischen Sanaa und Ägypten bzw. Jordanien ermöglichte, zu einem signifikanten Rückgang von Kampfhandlungen führte und eine Ausweitung von humanitären Hilfsprogrammen zuließ. Allerdings wurden zugleich rund um die Stadt Marib im gleichnamigen Gouvernement bereits Verletzungen der Waffenruhe verzeichnet. Im Mai 2022 kamen beim Abschuss einer Drohne und dem anschließenden Aufschlag in einem belebten Stadtteil der Hauptstadt Sanaa drei Personen ums Leben. [...] Trotz Verlängerung des Waffenstillstandsabkommen um zwei weitere Monate wurden die Kampfhandlungen weiterhin nicht vollständig eingestellt; mindestens 19 Zivilpersonen, darunter Kinder, wurden bei Kampfhandlungen in den Gouvernements Taizz und al-Dhali getötet. [...] Zum 02.10.2022 lief die am 02.04.2022 durch die UN vermittelte Waffenruhe aus, eine Verlängerung konnte nicht erzielt werden. Die Kriegsparteien verstärkten daraufhin ihre Truppen in den Gouvernements Marib und Taizz. In den Gouvernements al-Dhali und Lahij kam es zu ersten Gefechten. [...]

Auch wenn es nach alldem nicht zu ununterbrochenen Gewaltanwendungen gekommen ist, besteht ein kontinuierlicher und andauernder Konflikt, da die einzelnen gewalttätigen Handlungen der Konfliktparteien regelmäßig, in unvorhersehbar kurzen Abständen und auch trotz vereinbarter Waffenruhe aufgetreten sind. Ein Ende des Konflikts ist derzeit nicht in Sicht.

2. Als Folge der mit diesem Konflikt verbundenen willkürlichen Gewalt droht der Klägerin bei einer Rückkehr in den Jemen eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. [...]

Nach diesen Maßstäben ist bei dem bewaffneten Konflikt zwischen den Houthis und der Anti-Houthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens ein derart hoher Grad willkürlicher Gewalt für die dortige Zivilbevölkerung zu konstatieren, dass dieser die Zuerkennung subsidiären Schutzes an die Klägerin rechtfertigt.

Der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos ist eine Bevölkerungsanzahl von rund 33 Millionen Menschen in Jemen zugrunde zu legen, wobei der weit überwiegende Teil der Bevölkerung im dichter besiedelten Westen des Landes lebt.

In einem am 23.11.2021 veröffentlichen Report schätzt das UN Entwicklungsprogramm (UNDP) die Zahl der durch den Konflikt ums Leben gekommenen Personen auf 377.000 Menschen, wovon allerdings rund 60% der Todesfälle nicht auf direkte Kampfhandlungen zurückgeführt werden, sondern auf die schlechte humanitäre Lage, insbesondere auf fehlenden Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung. [...]

Angesichts des zwischen April und Oktober 2022 geltenden Waffenstillstandes, infolge dessen es zu keinen Luftschlägen oder größeren militärischen Operationen kam, ist davon auszugehen, dass die Anzahl ziviler Opfer durch direkte Kampfhandlungen gesunken ist. Vor dem Hintergrund, dass die Waffenruhe nicht verlängert, dafür aber die Truppen an den Frontlinien wieder verstärkt wurden und Hinweise auf eine Aufrüstung vorliegen, werden zur Bestimmung des statistischen Risikos die Zahlen aus dem Jahr 2021 herangezogen, sodass das statistische Risiko einer Zivilperson durch direkte Kampfhandlungen im Jemen verletzt oder getötet zu werden, jedenfalls im Jahr 2021 bei 1:13.158 lag.

Anhand der gebotenen Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände ist eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin bei einer Rückkehr in den Jemen festzustellen. [...]

a) Die politische Situation als auch die Sicherheitslage im ganzen Land sind ausgesprochen volatil. [...]

Die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die zumindest teilweise gezielt erfolgt, ist enorm. [...]

Die Huthis greifen dabei überwiegend auf Waffen mit geringer Treffsicherheit, wie Mörsergranaten und Raketen zurück und setzen diese u.a. gegen Wohngebiete, Märkte, Gefängnisse und Internierungslager ein, bei denen Zivilpersonen getötet und verletzt sowie zivile Infrastruktur zerstört und beschädigt wurden. Es erfolgt mitunter auch ein gezielter Beschuss von Zivilpersonen durch Scharfschützen. [...]

Die Anti-Houthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens führte zwischen März 2015 und September 2021 über 23.000 Luftschläge, durchschnittlich zehn pro Tag, aus. Dabei wurden 18.000 Zivilisten getötet oder verletzt. Mitunter wurden Märkte, Krankenhäuser, Internierungslager und belebte Nachbarschaften getroffen. Auch 2022 kam es zu weiteren Luftschlägen durch die Anti-Houthi-Koalition, durch welche Zivilpersonen getötet oder verletzt wurden. [...]

Darüber hinaus wird sowohl den Houthis als auch der Anti-Houthi Koalition unter der Führung von Saudi-Arabien der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe vorgeworfen. [...]

b) In diesem Zusammenhang tritt bei der gebotenen Gesamtbetrachtung erschwerend hinzu, dass der jahrelang andauernde Konflikt zu einer ganz erheblichen Verschlechterung der humanitären Lage im Jemen geführt hat.

Mitte März 2022 prognostizierten die Vereinten Nationen, dass 19 Millionen Jemeniten in Folge des andauernden Krieges im Jemen in den kommenden Monaten hungern würden. Nach dem Bericht der Vereinten Nationen verursachte der Konflikt die größte humanitäre Krise der Welt, bei der 24,1 Millionen Menschen - 80 Prozent der Bevölkerung Jemens - humanitäre Hilfe und Schutz benötigten. [...]

Darüber hinaus besteht ein Mangel an grundlegenden Medikamenten. [...]

Hinzu kommen ca. 4,3 Millionen Binnenflüchtlinge, die überwiegend durch Kampfhandlungen aus ihren Heimatorten vertrieben wurden. Ein gutes Drittel der Binnenflüchtlinge lebt in einer der landesweit ca. 2.300 improvisierten Unterkünfte, fast die Hälfte dieser Unterkünfte befindet sich in unmittelbarer Nähe einer aktiven Frontlinie. Unterkünfte für Binnenflüchtlinge werden in ganz Jemen als unzureichend beschrieben, 95 % von ihnen mangelt es an grundlegender Infrastruktur, bspw. medizinischer Versorgung, Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Bildungsmöglichkeiten und/oder Lebensmittelversorgung. Rd. zwei Drittel der Unterkünfte haben in einem Radius von 30 Minuten Fußweg keinen Zugang zu Wasserversorgung und sanitären Anlagen. [...]

c) In einer Gesamtbetrachtung all dieser Umstände ist als Folge des bewaffneten Konflikts zwischen den Houthis und der Anti-Houthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens eine derartige Gefahrverdichtung für alle Zivilpersonen für das gesamte Staatsgebiet des Jemen anzunehmen, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.

3. Die Klägerin muss sich auch nicht auf eine interne Fluchtalternative nach § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3e AsylG verweisen lassen. [...] Da auf Grundlage der vorangegangenen Ausführungen von einem innerstaatlich bewaffneten Konflikt mit der erforderlichen Gefahrendichte im gesamten Staatsgebiet des Jemen auszugehen ist, ist eine interne Fluchtalternative nicht gegeben. [...]