VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Gerichtsbescheid vom 13.04.2023 - 9 A 106/22 (Asylmagazin 7-8/2023, S. 255 f.) - asyl.net: M31575
https://www.asyl.net/rsdb/m31575
Leitsatz:

Weder subsidiärer Schutz noch Abschiebungsverbot für Person aus dem Jemen:

1. Unter Aufgabe der früheren Kammerrechtsprechung wird nicht mehr davon ausgegangen, dass jeder Zivilperson im gesamten Staatsgebiet des Jemen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts dorht.

2. Dem Kläger droht auch keine Art. 3 EMRK-Verletzung aufgrund der humanaitären Verhältnisse, weil er weder aufgrund seines Alters oder Gesundheitszustandes von dem Einsatz seiner Arbeitskraft und der Erwirtschaftung seines eigenen Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Saarland, Urteil vom 16.03.2023 - 3 K 801/21 - asyl.net: M31574)

Schlagwörter: Jemen, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist auch der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 AsylG nicht zuzuerkennen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung liegt im Herkunftsland des Klägers keine erhebliche individuelle Gefahrendichte vor, die dazu führt, dass jedem Angehörigen der Zivilbevölkerung im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht. [...]

Eine hinreichend genaue Feststellung des Anteils ziviler Opfer an der Gesamtzivilbevölkerung ist für den Jemen aufgrund fehlender Daten nicht möglich. Die vorhandenen Berichte geben aufgrund fehlender neutraler Beobachter nur grobe Schätzwerte an oder zählen einzelne verifizierte Zwischenfälle auf [...]. Zahlen zur Gesamtzivilbevölkerung existieren nicht. Die Größe der Gesamtbevölkerung wird nach Hochrechnungen auf etwa 30 Millionen geschätzt (The World Bank, World Development Indicators, wdi.worldbank.Org/table/2.1). Angaben zum Anteil der Kombattanten bzw. der Zivilbevölkerung an der Gesamtbevölkerung sind allerdings nicht ersichtlich.

Ende 2021 stellte das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Jemen, Gesamtaktualisierung am 17. Dezember 2021, S. 14 ff.) die Situation im Jemen mit Blick auf den bewaffneten Konflikt im Land unter anderem wie folgt dar:

"[...] Das Land ist instabil und von bewaffneten Konflikten geprägt. Es bestehen erhebliche Sicherheitsrisiken. Die Entwicklung der Lage ist ungewiss. In verschiedenen Landesteilen bekämpfen sich Regierungstruppen (unterstützt durch eine ausländische Koalition) und verschiedene aufständische Gruppierungen. Es finden regelmäßig Luftangriffe auf verschiedene Ziele statt. Auch Sanaa und Aden sind immer wieder von bewaffneten Auseinandersetzungen und Angriffen mit Raketen und Drohnen betroffen. [...]

[...] Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von terroristischen Akten gegen in- und ausländische Personen und Einrichtungen, einschließlich gegen humanitäre Organisationen. Regelmäßig fordern Anschläge Todesopfer und Verletzte [...]

[...] Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September 2021 wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete des jemenitischen Gouvernements Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe um Marib zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. [...]"

Das Auswärtige Amt fasst in seiner Reisewarnung (Auswärtiges Amt, Jemen: Reise- und Sicherheitshinweise (Reisewarnung), Stand 20. März 2023 (unverändert gültig seit 30. März 2022), www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/jemensicherheit/202260) die Lage im Jemen folgendermaßen zusammen:

"Sowohl die politische als auch die Sicherheitslage ist im ganzen Land ausgesprochen volatil. Die Gewährleistung der Sicherheit durch staatliche Behörden ist nicht sichergestellt. Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert weiter an. Anfang August 2019 kam es zu schweren Gefechten zwischen südlichen Separatisten und der Regierung loyalen Truppen in der Hafenstadt Aden. In der Folge kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden selbst. Daneben kommt es auch in Taizz immer wieder zu Kämpfen. Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat der Konflikt seit März 2015 über 10.000 zivile Opfer gefordert. Die weiterhin fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar. Die staatlichen Institutionen sind landesweit nur noch sehr eingeschränkt funktionsfähig. Bereits im September 2014 hatten Milizen der schiitisch-zaiditischen Huthi-Bewegung die Kontrolle über weite Landesteile, darunter auch die Hauptstadt Sanaa, übernommen und auch Teile der Sicherheitskräfte unter ihre Kontrolle gebracht Die staatlichen Sicherheitsorgane sind nur bedingt funktionsfähig und können im Einzelfall keinen ausreichenden Schutz garantieren. Die südjemenitische Bewegung ("al-hirak al-ganubi") strebt die Unabhängigkeit bzw. Autonomie des seit 1990 mit dem Nordjemen vereinigten Südens an. Es kommt weiterhin sehr rasch zu Versorgungsengpässen und Massendemonstrationen, zum Teil verbunden mit gewaltsamen Ausschreitungen. Die Spannungen zwischen Nord- und Südjemen und die zunehmende Fragmentierung des Landes tragen zur Instabilität des Landes bei. [...]"

Unter Aufgabe der früheren Kammerrechtsprechung (vgl. etwa Gerichtsbescheid vom 17. Juni 2021 - 9 A 114/20) geht die Kammer auf Grundlage der aktuellen Erkenntnislage nunmehr (vgl. Gerichtsbescheid vom 20. März 2023 - 9 A 54/22) nicht mehr davon aus, dass jeder Zivilperson im gesamten Staatsgebiet des Jemen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.  S. v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht.

Die von den UN und auch der Beklagten (BAMF, Briefing Notes, 22. März 2021, S. 5-6) prognostizierte Verschlechterung der Lage ist aufgrund der (Nach-) Wirkungen des von den UN vermittelten und am 2. März 2022 in Kraft getretenen Waffenstillstands nicht ersichtlich. Der Waffenstillstand lief - nach Verlängerung am 2. Juni 2022 und am 2. August 2022 - am 2. Oktober 2022 aus.

Zwar kam der innerstaatliche bewaffnete Konflikt im Jemen während der Waffenruhe nicht vollständig zum Erliegen. Dennoch führte der Waffenstillstand zu einer signifikanten Reduzierung der Intensität des Konflikts und der Anzahl an Opfern (UNICEF Yemen Country Office, Humanitarian Situation Report, Reporting Period 1 January - 31. Dezember 2022, S. 2). [...]

Auch nach Angaben von Mwatana waren keine großflächigen Schlachten oder Kämpfe außerhalb von Scharmützeln in Marib, Taiz, Hodeidah, al-Bayda und Dhale zu verzeichnen, wobei die Kämpfe in Marib hauptsächlich aus Artillerieschießereien südlich und westlich der Stadt bestanden (Mwatana for Human Rights, Violations and Absuses against Civilians during Yemen Truce, 7. November 2022, mwatana.org/en/yemens-truce/).

Nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung von humanitären Angelegenheiten fanden keine Luftangriffe oder größere Militäroperationen statt, wobei Frontgebiete weiterhin von niedrigschwelligen Zusammenstößen betroffen waren (UN OCHA, Humanitarian Update. Issue 1/January 2023, 26. Februar 2023, S. 3).

In Übersichten und Berichten von ACLED und des UN OCHA Civilian Impact Monitoring Project lassen sich zumindest Zahlen und Anhaltspunkte für eine Gesamtschau finden (ACLED Berichte und Statistiken Country Hub Yemen, acleddata.com/middle-east/yemen/; OCHA Civilian Impact Monitoring Project Yemen (CIMP), Quarterly report, Q3 2022: July - September 2022). Danach lag die Gesamtzahl der Todesfälle pro Jahr bei Schlachten, Explosionen, Fremdgewalt und Gewalt gegen Zivilisten in den Jahren 2015, 2016 und 2017 zwischen rund 17.000 und rund 15.000. In den Jahren 2018 bis 2021 schwankte diese Zahl jährlicher Opfer zwischen rund 18.000 und rund 34.000. Im Jahr 2022 brach die Zahl an Todesopfern auf rund 6.000 ein. Die Zahl der Ziviltoten bei Schlachten, Explosionen, Fremdgewalt und Gewalt gegen Zivilisten lag in den Jahren 2015 bis 2019 zwischen rund 4.500 und rund 1.300. Während die Anzahl ziviler Opfer im 1. Quartal 2022 bei rund 1.095 lag, sank diese Zahl im 2. und 3. Quartal 2022 auf je rund 480. [...]

Zwar stieg seit Ende des Waffenstillstands die Zahl der Binnenvertriebenen wieder. Im November und Dezember 2022 und im Januar 2023 kam es zudem zu Eskalationen und Konflikten entlang der Frontlinien, wodurch schätzungsweise insgesamt 830 Haushalte vertrieben wurden (OCHA, Humanitarian Update. Issue 1/January 2023, 26. Februar 2023, S. 3).

In der Gesamtschau zeichnet sich aktuell aber - trotz des Auslaufens des Waffenstillstands - keine beträchtliche Verschlechterung oder Eskalation der Konfliktlage zwischen den Beteiligten im Jemen ab. Insbesondere lässt sich aus den Informationen, die der Kammer vorliegen, nicht herleiten, dass die Konfliktlage in den Zustand vor dem Waffenstillstand zurückkehrt. [...]

Auch wenn es sich um einen schwer zu prognostizierenden und volatilen Zustand handelt, zeichnet sich aus der vorliegenden Berichtslage aktuell eine Entwicklung und Situation ab, bei der von einem voll ausgewachsenen Krieg nicht ausgegangen werden kann. Dafür spricht auch, dass nach Informationen der Beklagten unter Vermittlung der UN Verhandlungen über eine Erneuerung des Waffenstillstands zwischen der jemenitischen Regierung und den Huthi geführt werden (BAMF, Briefing Notes vom 27. Februar 2023, S. 5).

Gemessen an diesen aktuellen Erkenntnismitteln bewertet die Kammer das Risiko, im gesamten Jemen durch willkürliche Gewalt infolge eines bewaffneten Konflikts Schaden zu erleiden, als unterhalb der Schwelle der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit liegend. Die Kammer lässt bei ihrer Bewertung nicht außer Acht, dass es sich um einen fragilen und dynamischen Zustand handelt und Frieden im Jemen nicht ersichtlich ist. Aus der Berichtslage ergibt sich jedoch derzeit nicht, dass die für die Feststellung einer individuellen Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts erforderliche Gefahrendichte erreicht werden könnte. Der Waffenstillstand führte zwar nicht zu einem vollständigen Ausbleiben bewaffneter Konflikte und Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Aus den Erkenntnissen, die der Kammer vorliegen, ist jedoch eine erhebliche Reduzierung der Häufung von Angriffen und der Anzahl betroffener Gebiete zu erkennen. [...]

Für die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG in Bezug auf Jemen bietet das Klagevorbringen des Klägers ebenfalls keinen Anhalt. [...]

Der Kläger ist weder aufgrund Alters oder Gesundheitszustands von dem Einsatz seiner Arbeitskraft und der Erwirtschaftung seines eigenen Lebensunterhalts ausgeschlossen. [...]