VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 09.05.2022 - 4 K 1226/20 - asyl.net: M31565
https://www.asyl.net/rsdb/m31565
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für LSBTIQ*-Person aus Nigeria:

1. LSBTIQ-Personen sind massiver Diskriminierung und Anfeindungen ausgesetzt und können ihre sexuelle Orientierung daher in Nigeria nicht öffentlich ausleben.

2. Wie die sexuelle Orientierung gelebt wird, ist individuell unterschiedlich. Dies ändert nichts daran, dass sie ein bedeutsamer Bestandteil der Individualität eines Menschen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, bisexuell, interne Fluchtalternative, sexuelle Orientierung, identitätsprägend, homosexuell,
Normen: AsylG § 3a Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

LGBTI-Personen können ihre sexuelle Orientierung in Nigeria nicht öffentlich ausleben und sind massiven Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt. Das gesellschaftliche Klima ihnen gegenüber ist feindselig. Die Regierung beschreibt Homosexualität als "unnatürlich" und "unafrikanisch". Homosexuelle Handlungen sind strafbar - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen). Im Januar 2014 unterschrieb der frühere Präsident Goodluck Jonathan die sog. "Same Sex Marriage Bill". Danach können homosexuelle Handlungen mit Haftstrafen von bis zu 14 Jahren geahndet werden. Auch die bloße Mitwisserschaft ist strafbar. Im Ausland eingegangene gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder Ehen werden in Nigeria nicht anerkannt. Unterstützer von LGBTI-Organisationen können mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Seit der Verabschiedung des Gesetzes sind LGBTI Personen noch häufiger Opfer von Mob-Angriffen und Polizeigewalt (Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Lagebericht), Stand Januar 2022, vom 22.02.2022, S. 13). Auch wenn die o. g. Rechtsänderung bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt hat und es bisher wohl noch nicht zu Verurteilungen nach dem neuen Gesetz gekommen ist (AA, Lagebericht, S. 14), ist unter Zugrundelegung dieser Erkenntnislage und in Anbetracht der bereits erlittenen Vorverfolgung anzunehmen, dass der Kläger wegen seiner Bisexualität Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 AsylG ausgesetzt wäre.

Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger seine Bisexualität - wie das Bundesamt meint - bislang kaum öffentlich wahrnehmbar ausgelebt hat. Denn auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist anerkannt, dass "bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten (können], dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden" (EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 76 a.F.). [...] Dennoch wird in der Regel eine Prognose dahingehend angestellt, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben wird, ob im Verborgenen oder äußerlich erkennbar, oftmals orientiert an der bisherigen Risikobereitschaft oder der Lebensweise in Deutschland (so etwa VG München, Urt. v. 08.03.2019 - M 9 K 17.39188 -, juris Rn. 21; VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 08.10.2020 - 4 K 945/18 -, juris Rn. 52; VG Berlin, Urt. v. 17.08.2020 - 6 K 686.17 A -, juris Rn. 46). Es wird von den Klägern mithin erwartet, dass sie in irgendeiner Form unter Beweis stellen, dass ihnen das Verfolgen ihrer Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil ihrer Identität ist. Die sexuelle Orientierung ist aber zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen. Dies würde man auch einer heterosexuellen Person nicht absprechen, selbst wenn diese seit Jahren ohne Partner oder sexuelle Kontakte lebt. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnehmen, ist individuell unterschiedlich und kann sich jederzeit massiv verändern, wenn der Betreffende eine Person kennenlernt, zu der er sich hingezogen fühlt. Selbst wenn das bisherige ungebundene Dasein für denjenigen bis zu dem Zeitpunkt akzeptabel oder sogar erfüllt gewesen sein mag, kann sich sodann von einem Tag auf den anderen das Bedürfnis einstellen, mit dieser Person sein Leben zu verbringen oder etwa eine Familie zu gründen. Unter dieser Prämisse darf ein Geflüchteter nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihm das offene Zusammenleben mit einem frei gewählten Partner der Gefahr staatlicher Verfolgung aussetzen würde. [...]