OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 07.12.2022 - 4 LB 233/18 OVG - asyl.net: M31545
https://www.asyl.net/rsdb/m31545
Leitsatz:

Kein Schutz für staatenlose Palästinener*innen aus Libyen:

"1. Staatenlose Palästinenser unterfallen § 3 Abs. 3 AsylG nur dann, wenn sie Schutz oder Beistand des UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen und sich im Einsatzgebiet aufgehalten haben (Rn. 22).

2. Palästinenser unterliegen in Libyen keiner Gruppenverfolgung (Rn. 33) (Rn. 34).

3. Zu den Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in Libyen (im Einzelfall verneint) (Rn. 40) (Rn. 43).

4. Nach Inkrafttreten der Richtlinie 2008/115/EG ist eine Abschiebungsandrohung ohne Zielstaats­bestimmung rechtswidrig (Rn. 75) (Rn. 76).

5. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG kann nicht ohne Rückkehrentscheidung bestehen (Rn. 77)."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 27.04.2021 - 1 C 2.21 (Asylmagazin 9/2021, S. 330 ff.) - asyl.net: M29730)

Schlagwörter: Palästinenser, Libyen, UNRWA, Staatenlosigkeit, ipso facto-Flüchtling, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Abschiebungsverbot, Abschiebungsandrohung, Rückkehrentscheidung, Rückführungsrichtlinie, Zielstaatsbezeichnung, Herkunftsland, Herkunftsstaat,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 3 S. 2, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 34 Abs. 1 S. 1, RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 4
Auszüge:

[...]

16 Die Klage ist jedoch nur zum Teil begründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes. Auch Abschiebungsverbote für Libyen sind nicht festzustellen. [...] Die Kläger sind jedoch durch die Abschiebungsandrohung und die Entscheidung des Bundesamtes nach § 11 AufenthG in ihren Rechten verletzt. Insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, und das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern. [...]

18 Den Klägern ist die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. [...]

20 Die Kläger haben danach keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG als ipso facto-Flüchtlinge. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer Flüchtling, dem Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. Eine Person genießt den Schutz oder Beistand einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 Richtlinie 2011/95/EU nur dann, wenn sie diesen Schutz oder Beistand tatsächlich in Anspruch nimmt [...]. Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird im Sinne von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, sodass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen [...]. Ein Wegfall des Schutzes oder Beistands im Sinne von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG setzt also zunächst voraus, dass dem betreffenden Staatenlosen durch das UNRWA Schutz oder Beistand gewährt worden war und dieser das Einsatzgebiet des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) verlassen hat. Daran fehlt es hier. Das Einsatzgebiet des UNRWA beschränkt sich auf die fünf Operationsgebiete Jordanien, Syrien, Libanon, den Gazastreifen und das Westjordanland. In diesem Gebiet haben sich die Kläger nach eigenen Angaben zu keinem Zeitpunkt aufgehalten. Sie haben den Schutz oder Beistand des UNRWA nicht verloren.

21 Die Kläger sind auch keine Flüchtlinge nach § 3 Abs. 1 AsylG.

22 Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dieser Vorschrift ist für die Kläger allerdings nicht schon durch § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer auch dann nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt. Das trifft auf die Kläger nicht zu. [...] Von der Ausschlussklausel sind indes nur diejenigen Personen erfasst, die die Hilfe des UNRWA tatsächlich in Anspruch nehmen. Die betreffenden Bestimmungen sind eng auszulegen und erfassen daher nicht auch Personen, die lediglich berechtigt sind oder waren, den Schutz oder Beistand dieses Hilfswerks in Anspruch zu nehmen, ohne jedoch von diesem Recht Gebrauch zu machen (EuGH, Urt. v. 17.06.2010 – C- 31/09 –, juris Rn. 51). Als ausreichender Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme des Schutzes oder Beistands genügt zwar die Registrierung bei dem UNRWA (BVerwG, Urt. v. 27.04.2021 – 1 C 2/21 –, juris Rn. 14), welche die Kläger zu 1. und 2. vorgelegt haben. Die Kläger haben jedoch zur Überzeugung des Senats vorgetragen, sich zu keinem Zeitpunkt im Einsatzgebiet der UNRWA aufgehalten und deren Beistand somit tatsächlich nicht in Anspruch genommen zu haben.

23 Der Kläger haben jedoch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. [...]

31 Für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft ist im vorliegenden Fall auf Libyen abzustellen, da die Kläger dort als Staatenlose ihren vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatten (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG). Staatenlose im Sinne dieser Vorschrift sind Personen, die kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörige ansieht, soweit nicht eine Ausbürgerung oder Nichtanerkennung der Staatsbürgerschaft als Verfolgungsmaßnahme in Rede steht (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.02.2009 – 10 C 50/07 –, juris Rn. 25). [...]

32 Aus dem Vorbringen der Kläger ergibt sich nicht, dass sie Libyen vorverfolgt verlassen haben, weil sie bereits verfolgt worden sind oder von einer Verfolgung unmittelbar bedroht waren. Soweit sich der Kläger zu 1. in seiner Anhörung beim Bundesamt auf mehrfache Verhaftungen während der Proteste 2011, eine Entführung mit dem Ziel der Erpressung von Lösegeld durch eine kriminelle Gruppe und das Nichtbezahlen von Rechnungen seiner Autowerkstatt durch bewaffnete Männer beruft, sind diese Maßnahmen nicht so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. [...]

33 Den Klägern drohen bei einer Rückkehr nach Libyen auch nicht aus anderen Gründen Verfolgungsmaßnahmen wegen eines Verfolgungsgrundes. Das gilt auch in Ansehung der palästinensischen Volkszugehörigkeit der Kläger.

34 In Libyen leben ca. 20.000 Palästinenser, bei denen es sich größtenteils um gut ausgebildete und integrierte Fachkräfte handelt. Nach Kenntnis des Auswärtigen Amts findet eine gezielte staatliche Diskriminierung von Palästinensern nicht statt. Benachteiligungen im Vergleich zu libyschen Staatsangehörigen betreffen nicht nur Palästinenser, sondern Ausländer im Allgemeinen. Gleiches gilt hinsichtlich einer Diskriminierung durch die Zivilbevölkerung [...]. Das Bundesamt schätzte dagegen ein, dass sich spätestens mit dem Ausbruch verstärkter Kämpfe zwischen den konkurrierenden Regierungen ab Mai 2014 die Situation der Palästinenser deutlich verschlechtert und sich die Wahrnehmung der Palästinenser von dem Bild der Mit-Araber hin zu unerwünschten Ausländern verändert hat. Palästinenser wurden danach als Verantwortliche für konfliktbedingte Probleme angesehen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 01.10.2019, Länderreport 19 Libyen, S. 8). Dem entspricht auch eine Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. [...] Auch der UNHCR beschrieb 2015, dass sich die Haltung der libyschen Bevölkerung gegenüber Palästinensern als "arabischen Brüder" seit 2014 geändert habe und sie seither als Ausländer angesehen würden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 31.10.2017, Libyen: Palästinensische Flüchtlinge, S. 12 f.).

35 Doch selbst wenn man annimmt, dass die Lage der Palästinenser im Vergleich zur inländischen Bevölkerung schlechter ist, lässt sich nicht feststellen, dass allen Palästinensern in Libyen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen. [...]

36 Der Senat vermag den ausgewerteten Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte für die Annahme eines staatlichen Verfolgungsprogramms gegen Palästinenser zu entnehmen. [...]

37 Den Klägern ist auch kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

38 Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs.1 Satz 1 AsylG). [...]

39 Für einen Fall des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG ist vorliegend nichts vorgetragen. Nach den Feststellungen zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft droht den Klägern in Libyen auch keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). [...]

40 In Betracht kommt deshalb allein ein subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr setzt dabei voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden an den benannten Rechtsgütern droht [...]. Es liegen jedoch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vor, dass den Klägern in ihrem Herkunftsland (§ 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG) Libyen eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.

41 Das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts führt zur Gewährung subsidiären Schutzes, sofern die Auseinandersetzungen zwischen den regulären Streitkräften eines Staates und einer oder mehreren bewaffneten Gruppen oder zwischen zwei oder mehreren bewaffneten Gruppen als ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, angesehen werden kann, weil der Grad willkürlicher Gewalt bei diesen Konflikten ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein. [...]

42 Für die Frage, ob eine "ernsthafte individuelle Bedrohung" der Schutzsuchenden vorliegt, kann die Anzahl der bereits festgestellten Opfer bezogen auf die Gesamtbevölkerung in der betreffenden Region als relevant angesehen werden. Dieser Umstand kann jedoch nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium sein. Zur Feststellung, ob eine Bedrohung im Sinne der Vorschrift vorliegt, ist eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände, erforderlich. [...]

43 Nach diesen Maßstäben unterliegen die Kläger bei einer Rückkehr nach Libyen keiner ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

44 Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird. [...]

45 Abzustellen ist danach für diese Entscheidung auf die Stadt ... und den Distrikt Nuqat al-Chams als Herkunftsregion der Kläger. Dort haben die Kläger in Libyen gelebt. Der vorübergehende Umzug nach Tripolis erfolgte nach Angaben der Kläger, um der Bedrohungslage in ihrer Heimatstadt zu entgehen und daher unfreiwillig. Ihre Herkunftsregion hat sich dadurch nicht geändert. [...]

54 Auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer für nicht bekannt gewordene Fälle (vgl. VG Berlin, Urt. v. 06.10.2022 – 19 K 347/20 A –, juris Rn. 35) und der Annahme eines Faktors für die methodisch nicht erfassten verletzten Zivilisten (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 24.09.2019 – 9 LB 136/19 –, juris Rn. 97) lässt sich aus diesen Angaben zum jetzigen Zeitpunkt angesichts einer Bevölkerungszahl von 287.000 für Nuqat al-Chams bzw. ... nur ein geringes Risiko für Zivilpersonen ermitteln, in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt getötet zu werden oder Verletzungen zu erleiden. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines solchen Konflikts lässt sich für die Kläger auch nicht im Ergebnis einer umfassenden Berücksichtigung aller sonstigen Umstände des Einzelfalls feststellen. Das gilt gleichermaßen für Gefahren durch die militärischen Verbände der beiden konkurrierenden Regierungen und durch lokale Milizen.

55 Der Senat hat dabei gefahrerhöhend die lange Dauer der innerlibyschen Auseinandersetzungen, den hohen Organisationsgrad der beteiligten bewaffneten Gruppen und den Umstand berücksichtigt, dass eine endgültige Lösung des politischen Konflikts durch Wahlen und Zusammenführung der verschiedenen staatlichen und militärischen Organisationen weiterhin nicht absehbar ist. Die Gefährdung der Kläger ist auch deshalb als überdurchschnittlich einzuschätzen, weil ihre westlibysche Herkunftsregion wegen ihrer Nähe zu Tripolis potentiell konfliktträchtiger erscheint. Risikoerhöhend wirkt sich ebenfalls aus, dass die Kläger wegen ihrer Volkszugehörigkeit keinen Schutz durch die traditionell starken Stammesstrukturen in Libyen zu erwarten haben. Einzustellen war schließlich, dass medizinische Einrichtungen, in denen eine berufliche Tätigkeit der Klägerin zu 2. zu erwarten ist, in der Vergangenheit besonders gefährdet waren (Insecurity Insight, 22.06.2021, Violence Against or Obstruction of Health Care in Libya in 2020).

56 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass seit dem Waffenstillstand 2020 die Zahl der zivilen Opfer der bewaffneten Auseinandersetzungen in Libyen drastisch gesunken ist und der Waffenstillstand über einen längeren Zeitraum grundsätzlich eingehalten wird, selbst wenn es im Einzelfall immer wieder zu lokalen Gewaltausbrüchen kommt. Der unter internationaler Vermittlung zustande gekommene Friedensprozess ist von keiner Seite abgebrochen worden. Der Senat stellt auch den Umstand ein, dass der größte Teil der Binnenvertriebenen inzwischen in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt ist und das Risiko für sich nunmehr als vertretbar einschätzt. Das ist ein deutliches Anzeichen für eine Entspannung der Lage, weil diese Personengruppe wegen ihrer räumlichen Nähe zum Konflikt zu einer informierten Gefahreneinschätzung in der Lage ist.

57 Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten.

58 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

59 Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. [...]

60 In besonderen Ausnahmefällen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen. [...]

65 Der Senat geht davon aus, dass die Kläger das zu ihrem Lebensunterhalt in Libyen unbedingt Notwendige durch eigene Erwerbstätigkeit und erforderlichenfalls durch die humanitäre Unterstützung internationaler Organisationen erlangen können. Die Kläger sind grundsätzlich erwerbsfähig und haben Erfahrungen auf dem libyschen Arbeitsmarkt. Auch wenn sie als Ausländer keinen Zugang zum staatlichen Sektor und zu staatlichen Transferleistungen haben und die Klägerin zu 2. auf absehbare Zeit mit der Pflege und Erziehung der vier Kinder beschäftigt sein wird, kann jedenfalls der Kläger zu 1. wieder eine Tätigkeit im privaten Sektor aufnehmen. Vor seiner Ausreise hat der Kläger zu 1. in el-Agelat und Tripolis verschiedene Erwerbstätigkeiten ausgeübt und damit seine Familie versorgt. Es ist zu erwarten, dass ihm das erneut gelingen würde. Bei einer lebensnahen Betrachtung ist auch davon auszugehen, dass die Kläger in ihrem Heimatort Freunde und Bekannte haben, die ihnen dabei helfen können, anfängliche Schwierigkeiten zu überwinden. Gleiches gilt für die in Libyen verbliebenen Familienmitglieder. Die Kläger würden voraussichtlich zudem Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen erfahren. Der jüngste Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stellt eine kritische humanitäre Situation nur für die Gruppe der inhaftierten Migranten fest (United Nations Security Council, 19.08.2022, United Nations Support Mission in Libya, S. 9 f.), zu dieser Gruppe rechnen die Kläger nicht.

66 Es ist auch zu erwarten, dass die Kläger Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung hätten.

67 Die medizinische Grundversorgung hat sich in den Jahren des anhaltenden Bürgerkrieges allerdings stark verschlechtert. [...]

68 Nach diesen Erkenntnissen ist die Gesundheitsversorgung in der Herkunftsregion der Kläger zwar eingeschränkt, aber nicht zusammengebrochen und für die Kläger auch zugänglich, so dass ein Abschiebungsverbot auch unter diesem Gesichtspunkt nicht festzustellen ist. [...]

73 Die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 24. November 2016 ist dagegen rechtswidrig und auf den Anfechtungsantrag der Kläger aufzuheben.

74 Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG. [...]

75 Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ist an der Richtlinie 2008/115/EG zu messen [...]. Die Abschiebungsandrohung ist als Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 Richtlinie 2008/115/EG anzusehen [...]. In jeder Rückkehrentscheidung muss aber unter den in Art. 3 Nr. 3 Richtlinie 2008/115/EG genannten Drittländern dasjenige angegeben werden, in das der Adressat der Rückkehrentscheidung abzuschieben ist [...]. Eine Rückkehrverpflichtung ist nicht ohne die Bestimmung eines Ziellandes vorstellbar, welches eines der in Art. 3 Nr. 3 Richtlinie 2008/115/EG genannten Länder sein muss [...]. Nach Inkrafttreten der Richtlinie 2008/115/EG ist eine Abschiebungsandrohung ohne Zielstaatsbestimmung bereits aus diesem Grund rechtswidrig und aufzuheben [...].

76 Der Senat hat erwogen, ob mit der Abschiebungsandrohung "in den Herkunftsstaat" im vorliegenden Fall bei verständiger Auslegung die Abschiebung der Kläger nach Libyen angedroht worden war. Er sieht sich an einem solchen Verständnis jedoch gehindert, weil das Bundesamt in der Begründung des angefochtenen Bescheides ausdrücklich erklärt hat, keine Zielstaatsbezeichnung treffen zu wollen, weil – was nach Auffassung des Senats nicht der Fall ist – der Herkunftsstaat der Kläger ungeklärt sei. [...]