Erfolgreicher Eilantrag auf amtsärztliche Untersuchung wegen Anzeichen für Reiseunfähigkeit aufgrund von Suizidgefahr:
1. Eine Person ist reiseunfähig und damit gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG zu dulden, wenn sich ihr Gesundheitszustand voraussichtlich entweder durch die mit der Abschiebung verbundene Ortsveränderung wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmalig entstünde (Transportunfähigkeit oder Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), oder wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich - außerhalb des Transportvorgangs an sich - unmittelbar durch die Abschiebung als solche und unabhängig vom Zielstaat der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne), ohne dass diese Gefahren durch Vorkehrungen im Rahmen einer besonderen Gestaltung des Abschiebevorgangs ausgeschlossen oder minimiert werden könnten.
2. Wenn sich aus ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag der betroffenen Person oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben (hier: wegen Suizidgefahr), ist die Ausländerbehörde aufgrund ihrer Amtsermittlungspflicht vor einer Abschiebung gemäß § 24 Abs. 1 VwVfG verpflichtet, eine amtsärztliche Untersuchung hinsichtlich der Reiseunfähigkeit durchzuführen.
3. Der Erlass einer entsprechenden Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO, eine betroffene Person wegen Reiseunfähigkeit zu dulden, ist nicht erst geboten, wenn die Reiseunfähigkeit der betroffenen Person positiv feststeht, sondern bereits dann, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie wegen einer (psychischen) Erkrankung nicht reisefähig ist bzw. die Durchführung der Abschiebung besondere Sicherheitsvorkehrungen erfordert.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Göttingen, Beschluss vom 08.03.2022 - 1 B 274/21 - asyl.net: M32387; siehe auch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.06.2017 - 11S 658/17 (ASYLMAGAZIN 7-8/2017, S. 305 f.) - asyl.net: M25204)
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Der der Kammer am heutigen Morgen um 7.30 Uhr vorgelegte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf amtsärztliche Untersuchung zur Prüfung der Reisefähigkeit und Untersagung der Abschiebung am heutigen Tag hat Erfolg. [...]
Angesichts der bereits laufenden Abschiebung ist ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, ebenso ist glaubhaft gemacht, dass die Abschiebung des Antragstellers zeitweise auszusetzen (§ 60a AufenthG) ist.
Zwar dürften die Voraussetzungen für die Abschiebung des Antragstellers gemäß §§ 58 Abs. 1, § 50 Abs. 1 AufenthG erfüllt sein und der Antragsteller, dem die Abschiebung in die Demokratische Kongo in dem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge angedroht worden ist, vollziehbar ausreisepflichtig sein.
Eine Abschiebung ist gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG jedoch auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Zwar hat der Antragsteller mit dem vorliegenden Antrag eine Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nicht glaubhaft gemacht, dass einer Suizidgefahr durch die Gestaltung der Abschiebung nicht wirksam begegnet werden kann.
Allerdings hat der Antragsteller die Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Prüfung seiner Reisefähigkeit durch eine ärztliche Untersuchung und zur Duldung bis zu dieser Prüfung glaubhaft gemacht.
Die Ausländerbehörde ist in Anwendung des § 24 VwVfG i. V. m. § 1 VwVfG verpflichtet, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung angezeigt sein, vgl. § 60a Abs. 2d S. 2 AufenthG (vgl. VG Göttingen, Beschluss vom 8. März 2022 – 1 B 274/21 –, juris, m.w.N. auch zur obergerichtlichen Rechtsprechung).
Da bei der Frage der Reisefähigkeit das Grundrecht des Betroffenen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) tangiert wird und sich die möglichen Folgen, die bei einer trotz Reiseunfähigkeit durchgeführten Abschiebung entstehen, häufig nicht oder nur schwer rückgängig machen lassen, ist der Erlass einer Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht erst dann geboten, wenn die Reiseunfähigkeit des Ausländers positiv feststeht, sondern bereits dann, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Ausländer wegen einer (psychischen) Erkrankung nicht reisefähig ist bzw. die Durchführung der Abschiebung besondere Sicherheitsvorkehrungen im oben genannten Sinne erfordert (vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 28. Dezember 2011 – 18 B 1460/11 -, juris).
In Anwendung dieser Grundsätze kann der Antragsteller erst abgeschoben werden, wenn seine (ggf. auch eingeschränkte) Reisefähigkeit in entsprechender Weise festgestellt worden ist.
Reiseunfähigkeit ist unter anderem gegeben, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers allein durch die Ortsveränderung voraussichtlich wesentlich verschlechterte oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmalig entstünde (Transportunfähigkeit oder Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), aber auch dann, wenn das ernsthafte Risiko zu gewärtigen wäre, dass – außerhalb des Transportvorgangs – unmittelbar durch die Abschiebung als solche und unabhängig vom Zielstaat sich der Gesundheitszustand des Abzuschiebenden wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechterte (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne), ohne dass derlei Gefahren durch Vorkehrungen im Rahmen einer besonderen Gestaltung des Abschiebevorgangs ausgeschlossen oder minimiert werden könnten (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 7. September 2017 – 13 ME 157/17 –, juris Rn. 4). [...]
In Bezug auf die staatlichen Schutzpflichten geht es also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. Juni 2016 – 2 M 16/16 –, juris Rn. 4).
Hier liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller wegen einer (psychischen) Erkrankung nicht reisefähig sein könnte bzw. die Durchführung der Abschiebung weitere Schutzpflichten auslösen könnte. Dies beruht auf folgenden Erwägungen: [...]
Die LVR-Klinik - Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ... - hatte zuvor in der Stellungnahme vom ... 2020 hierzu ausgeführt, es sei in Kenntnis der psychiatrischen Vorgeschichte, des Krankheitsbildes und der vulnerablen Persönlichkeit des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Abschiebung damit zu rechnen, dass er entwurzelt in einem ihm völlig fremden Land und einer ihm fremden Kultur, mittellos, ohne jegliche soziale und therapeutische Unterstützung und ohne lebenswerte Perspektiven in kürzester Zeit, spätestens unmittelbar nach Ankunft in der Demokratischen Republik Kongo, möglicherweise aber auch bereits im Rahmen des Abschiebeprozesses, psychisch schwer dekompensiere und in eine akute suizidale Krise mit konsekutiven Suizidhandlungen gerate. [...]
Eine Untersuchung des Antragstellers zur Prüfung seiner Reisefähigkeit und auch des Erfordernisses besonderer Schutzvorkehrungen ist zu keinem Zeitpunkt durchgeführt worden. Insbesondere ist keine Prüfung erfolgt, ob - insbesondere mit Blick auf die von ... diagnostizierte chronisch erhöhte Suizidgefahr - über die ärztliche Begleitung hinaus weitere Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Einer solchen Prüfung hätte es aber gerade auch vor dem Hintergrund der konkreten Abschiebungsmaßnahme bedurft: Der unter Betreuung stehende Antragsteller (die Betreuung wurde unter anderem angeordnet für die Aufgabenbereiche Organisation ambulanter und stationärer Hilfen, Gesundheitsfürsorge, Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern und Wohnungsangelegenheiten) wird in der Nacht um 1:25 Uhr in Kinshasa landen, ohne dass ihm zuvor durch eine rechtzeitige Bekanntgabe des Abschiebungstermins Gelegenheit gegeben worden wäre, Vorsorge zu treffen und ohne dass der Antragsgegner seinerseits diesbezügliche Maßnahmen geplant hätte. [...]