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VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Beschluss vom 16.12.2022 - 4 B 274/22 MD - asyl.net: M31508
https://www.asyl.net/rsdb/m31508
Leitsatz:

Asylantrag bei Herkunft aus der Provinz Ninewa im Irak nicht offensichtlich unbegründet:

1. Voraussetzung für ein Offensichtlichkeitsurteil gemäß § 30 Abs. 1 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG ist, dass eine ausreichend gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt, wonach ein ernsthafter Schaden infolge eines innerstaatlichen Konflikts nicht droht. Eine solche gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung liegt hinsichtlich der Provinz Ninewa nicht vor.

2. Unter Berücksichtigung der jüngeren Geschichte des Irak mit dem Erstarken des IS, den als Gruppenverfolgung zu wertenden grausamen Übergriffen auf Yezid*innen und den multiplen, seit dem Zurückdrängen des IS schwelenden religiösen sowie ethnischen Konflikten ist ein subsidiärer Schutzanspruch für Menschen aus dem Nordirak gegenwärtig nicht offensichtlich ausgeschlossen.

3. Yezid*innen, die vom IS angegriffen wurden und von Kämpfen in der Umgebung berichtet, sind nicht gemäß § 30 Abs. 2 AsylG nur aus wirtschaftlichen Gründen geflohen.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Hamburg, Beschluss vom 21.10.2022 - 8 AE 3471/22 - asyl.net: M31325; unter Bezug auf: VG Braunschweig, Beschluss vom 26.01.2022 - 2 B 18/22 - openjur.de; VG München, Beschluss vom 16.04.2020 - M 4 S 20.30879 - gesetze-bayern.de)

Schlagwörter: Yeziden, Irak, offensichtlich unbegründet, Jesiden, Ninewa, Nineveh, Nordirak, subsidiärer Schutz, wirtschaftliche Gründe, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1, AsylG § 30 Abs. 2, AsylG § 36 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Maßstab ist vorliegend, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG. Die Erfolgsaussichten eines entsprechenden Eilantrags hängen davon ab, ob gerade das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes ernstlichen Zweifeln begegnet, ohne dass der Ablehnungsbescheid selbst zum Verfahrensgegenstand wird. [...]

Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor. Ein Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes [...] offensichtlich nicht vorliegen. [...]

Nach diesen Maßstäben begegnet die Offensichtlichkeitsentscheidung jedenfalls hinsichtlich der Ablehnung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hinsichtlich der Herkunftsprovinz des Klägers (Ninewa) Bedenken. Im Rahmen der Prüfung, ob eine Schutzgewährung aufgrund einer ernsthaften Bedrohung für Leib und Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG in Frage kommt, ist Voraussetzung für das Offensichtlichkeitsurteil, dass eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung vorliegt. [...]

Eine ausreichend gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung hinsichtlich der Gewährung von subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die Provinz Ninewa ist nicht anzunehmen. Das Verwaltungsgericht München (a.a.O.) hat hierzu ausgeführt:

"In den Jahren von 2018 bis 2020 fand das Gericht lediglich ein obergerichtliches Urteil zur Provinz [Ninewa] in Hinblick auf die Prüfung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (OVG Lüneburg, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 78). In diesem wird das Vorliegen eines innerstaatlichen Konflikts offen gelassen; jedoch festgestellt, dass eine ausreichende Gefährdungsdichte nicht anzunehmen ist. [...]."

Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat weiter Folgendes ausgeführt (Beschluss vom 26.01.2022 - 2 B 18/22 -. juris Rn. 10):

"Unter Berücksichtigung der jüngeren Geschichte des Irak mit dem Erstarken des IS in den Jahren 2013 bis 2015, seinen rechtlich als Gruppenverfolgung anzusehenden grausamen und gewalttätigen Übergriffen auf die Yeziden, der Zurückdrängung des IS durch den irakischen Staat, Verbündete und eine Vielzahl paramilitärischer Gruppierungen in den Folgejahren und den seither schwelenden multiplen religiösen sowie ethnischen Konflikten im Irak sind subsidiäre Schutzansprüche für Menschen aus dem Nordirak gegenwärtig nicht offensichtlich ausgeschlossen (vgl. dazu auch VG München, Beschluss vom 16.04.2020 - M 4 S 20.30879 -. juris Rn. 25). [...]."

Diesen Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an (so z.B. auch VG Hannover, Beschluss vom 31.03.2022 - 12 B 1138/22 -, juris). Von einer "gefestigten" obergerichtlichen Rechtsprechung zur Sicherheitslage in der Provinz Ninewa kann jedenfalls nicht ausgegangen werden.

Die Voraussetzungen des selbstständig tragenden § 30 Abs. 2 AsylG sind ebenfalls nicht gegeben. [...]

Nach diesen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine qualifizierte Ablehnung des Asylantrages wegen der Berufung auf wirtschaftliche Gründe nach § 30 Abs. 2 AsylG hier nicht erfüllt. Aus dem Akteninhalt ist ersichtlich, dass der Antragsteller den Irak nicht (nur) wegen wirtschaftlicher Gründe verlassen hat. In der Anhörung hat der Antragsteller vorgetragen, dass der IS im Jahr 2014 zu ihnen gekommen sei und sie angegriffen habe. Wegen des Massakers hätten sie fliehen müssen und seien deshalb die ganze Zeit Flüchtlinge gewesen. Es gebe noch immer bewaffnete Gruppen und zahlreiche Kämpfe. Geschäfte würden zerstört und Frauen und Kinder verletzt. Es habe "immer mal wieder" Raketen oder Bomben gegeben. [...] Insbesondere vor dem Hintergrund der allgemein angenommenen Vorverfolgung der Yeziden im Irak durch den IS in den Jahren 2014 bis 2017, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung der Yeziden in diesen Zeitraum führte, und angesichts der weiterhin im Irak stattfindenden Kämpfe ist hier ein reines, grundloses Vorschieben zur Verdeckung von wirtschaftlichen Gründen nicht ersichtlich. [...]