VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.03.2023 - A 11 S 3477/21 (Asylmagazin 6/2023, S. 209 ff.) - asyl.net: M31502
https://www.asyl.net/rsdb/m31502
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für Angehörigen der Volksgruppe der Hazara wegen Barvermögens und unglaubhafter Angaben zum familiären Netzwerk:

"1. Allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und zum schiitisch-muslimischen Glauben besteht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung.

2. Verfügt ein Rückkehrer nach Afghanistan ohne Unterhaltsverpflichtungen, für den zudem keine Kosten der Unterkunft in die Berechnung einzustellen sind, über ein Barvermögen i. H. von ca. 4.000 EUR, so lässt sich eine alsbald nach der Abschiebung dorthin eintretende Verelendung nicht begründen."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2023 - A 11 S 1329/20 - asyl.net: M31365)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Abschiebungsverbot, Vermögen, familiäre Beistandsgemeinschaft, familiäres Netzwerk, Verelendung, Existenzgrundlage, Schiiten, Taliban, Asylantragstellung im Ausland, ISKP, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

27 1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß dem hier allein in Betracht kommenden Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. 28 Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. [...]

33 In Anwendung dieser Grundsätze vermag sich der Senat nicht davon zu überzeugen, dass für den Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Gefahr i. S. des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. mit Art. 3 EMRK besteht. Denn auf der Grundlage des unglaubhaften Vortrages des Klägers zu den Gründen und Umständen seiner Ausreise aus Afghanistan sowie zu seinen Familienverhältnissen (a) liegt für den Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan eine tatsächliche Gefahr i. S. des Art. 3 EMRK weder aus individuell an die Person des Klägers anknüpfenden Gründen (b) noch wegen seiner Ausreise aus Afghanistan und seines Aufenthalts im westlichen Ausland (c) oder wegen seiner Volkszugehörigkeit (d) bzw. aus sonstigen Gründen, einschließlich der prekären humanitären Verhältnisse in Afghanistan, (e) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit vor.

34 a) Wie bereits das Verwaltungsgericht sieht auch der Senat das gesamte für das streitige Abschiebungsschutzbegehren relevante Vorbringen des Klägers zu den für das Verlassen des Herkunftslandes maßgeblichen Gründen und Umständen sowie zu seinen familiären Verhältnissen in Afghanistan als unglaubhaft an. Denn seine entsprechenden Angaben sind unauflösbar widersprüchlich, ungereimt und unsubstantiiert. [...]

42 (1) Völlig widersprüchlich sind dabei insbesondere die Angaben des Klägers zum Tod engster Familienangehöriger in seiner Kindheit. [...]

52 (3) Angesichts der mangelnden Glaubhaftmachung des Todes seines Vaters und der Eheschließung des Klägers ist auch seine nicht durch Unterlagen belegte Angabe in der vorgelegten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 04.01.2023, er gewähre seiner in Kabul lebenden Ehefrau monatlich ca. 300,- EUR und seiner in Afghanistan lebenden Mutter im Monat ca. 250,- EUR Unterhalt, unglaubhaft.

53 b) In Ansehung dessen liegt für den Fall der Rückkehr des Klägers nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine tatsächliche Gefahr i. S. des Art. 3 EMRK aus individuell an seine Person anknüpfenden Gründen vor. Denn die Angaben des Klägers zu vor seiner Ausreise aus Afghanistan dort bestehenden individuellen Gefährdungen sind - wie dargelegt - unglaubhaft, und für nach der Ausreise entstandene, individuell an seine Person anknüpfende Gefährdungen in Afghanistan bestehen keine Anhaltspunkte. [...]

54 c) Dem Kläger droht eine § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. mit Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung auch nicht wegen seiner Ausreise aus Afghanistan und seines Aufenthalts im westlichen Ausland.

55 Der Senat hat im bereits angeführten Urteil vom 22.02.2023 (- A 11 S 1329/20 - juris Rn. 57 bis 68) ausführlich dargelegt, dass und weshalb Rückkehrern aus dem westlichen Ausland nicht ohne weitere gefahrerhöhende Momente mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich beachtliche Verfolgung i. S. des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Hierzu hat er ausgeführt, dass es insbesondere an tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme fehlt, Rückkehrer nach Afghanistan müssten Maßnahmen der Taliban befürchten, die als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG zu qualifizieren seien, oder sie hätten durch nicht den Taliban zugehörige (private) Dritte, etwa die Familie oder die lokale Gemeinschaft, als nichtstaatliche Akteure Gefährdungen wegen eines flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrundes zu gewärtigen. In diesem Zusammenhang hat der Senat auch ausgeführt, dass eine "Verwestlichung" allenfalls dann als individuell gefahrerhöhender Umstand anzusehen ist, wenn sie mit einer tiefgreifenden westlichen Identitätsprägung einhergeht. [...]

57 Nichts anderes gilt mit Blick auf die hier maßgebliche Regelung des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. mit Art. 3 EMRK. Denn der sachliche Schutzbereich dieses nationalen Abschiebungsverbots ist weitgehend identisch mit dem unionsrechtlichen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG i. V. mit § 4 Abs. 1 AsylG und geht über dieses nicht hinaus [...].

58 d) Dass für den Kläger wegen der von ihm behaupteten Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und zum schiitisch-muslimischen Glauben im Falle der Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung besteht, ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. [...]

59 Die mehrheitlich schiitische Bevölkerungsgruppe der Hazara stellt mit ca. 9 % bis 20 % (es gibt nur Schätzungen) der wiederum geschätzt rund 41 Mio. Afghanen - also mit ca. 3,7 bis 8 Mio. Personen - die drittgrößte Ethnie innerhalb der verschiedenen Volksgruppen Afghanistans dar [...].

60 Zwischen August 2021 und Juni 2022 wurden in Afghanistan insgesamt 2.106 zivile Opfer (700 Getötete und 1.406 Verwundete) dokumentiert, die überwiegend auf Angriffe des ISKP auf nichtmilitärische Ziele wie Moscheen, öffentliche Parks, Schulen und öffentliche Verkehrsmittel zurückzuführen waren [...]. Der ISKP ist landesweit zumindest mit kleinen Zellen präsent und verübt weiterhin Anschläge mit zahlreichen Todesopfern, vor allem in den Provinzen Kabul und Nangarhar, die sich gegen de-facto-Sicherheitskräfte, aber auch gegen Zivilisten, insbesondere die mehrheitlich schiitische Bevölkerungsgruppe der Hazara, die Minderheit der Sikhs und auch Anhänger des sunnitischen Sufismus richten[...]. Dieser Befund setzte sich im Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte September 2022 fort [...], wobei der Generalsekretär der Vereinten  Nationen allerdings für den Zeitraum vom 22.05. bis 16.08.2022 einen Rückgang der Angriffe des ISKP auf 48 Anschläge der Gruppe in elf Provinzen im Vergleich zu 113 Angriffen in acht Provinzen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum vermeldete [...]. Im darauffolgenden dreimonatigen Berichtszeitraum gingen die Angriffe noch weiter zurück; insoweit wurden 30 Anschläge in sechs Provinzen (Vorjahreszeitraum: 121 Anschläge in 14 Provinzen) verzeichnet [...]. Allerdings fielen in diese Zeit Angriffe des ISKP gegen Hazara in Kabul an drei aufeinanderfolgenden Tagen (05. bis 07.08.2022) mit am 05.08.2022 8 Toten und 18 Verwundeten sowie am 06.08.2022 zwischen 2 und 8 Toten und zwischen 7 und 30 Verwundeten; für den letzten Bombenangriff auf einen Minibus sind keine Opfer berichtet.

61 Vor diesem Hintergrund lässt sich aus den berichteten zivilen Opfern keine für den Kläger im Falle seiner Rückkehr bestehende Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung feststellen. Dies gilt unabhängig davon, dass die dokumentierten 2.106 zivilen Opfer in zehn Monaten nicht allesamt der Volksgruppe der Hazara angehörten, sondern auch andere Gruppen, wie die Sikhs und Anhänger des sunnitischen Sufismus, betroffen waren. Denn selbst dann, wenn die Anschläge allein Angehörigen der Volksgruppe der Hazara gegolten hätten, ließe die Zahl der Opfer, zumal angesichts der tendenziell abnehmenden Zahl der Angriffe, gemessen an der Gesamtzahl der Hazara in Afghanistan von ca. 3,7 bis 8 Mio. Personen allenfalls die Feststellung zu, für den Kläger bestehe im Falle seiner Rückkehr wegen seiner Zugehörigkeit zu der genannten Volksgruppe die Möglichkeit einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung. Auch unter Berücksichtigung der Schwere der in Rede stehenden Rechtsgutsverletzungen wäre hingegen die Annahme, gleichsam jedem Hazara, und damit auch dem Kläger im Falle einer Rückführung nach Afghanistan, drohe in Afghanistan jederzeit ernsthaft bzw. real mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Rechtsgutsverletzung i. S. des Art. 3 EMRK, nicht zu rechtfertigen.

62 Dafür, dass dem Kläger allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara von anderer Seite eine Gefährdung drohen könnte, die für sich allein oder aber gemeinsam mit den oben angeführten Gefahren durch den ISKP den Anforderungen des Art. 3 EMRK genügen könnte, bestehen keine Anhaltspunkte. Die berichteten Gräueltaten der Taliban im Zuge der Machtübernahme im August 2021 sowie die als Zwangsdelogierungen bezeichneten Vertreibungen von Hazara aus ihren Häusern und von ihren Äckern im Jahre 2021 (vgl. ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan, 22.12.2022, S. 11 ff.) genügen hierzu bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht (mehr).

 

66 cc) Schließlich vermag der Senat auch nicht die Feststellung zu treffen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr wegen der prekären humanitären Verhältnisse in Afghanistan einer Art. 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt sein wird. [...]

70 Ob wegen prekärer Lebensbedingungen eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, hängt danach nicht nur von den allgemeinen Lebensverhältnissen im Zielstaat ab, sondern auch von den individuellen Umständen des Betroffenen, so dass es einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls bedarf (vgl. das Urteil des Senats vom 22.02.2023 - A 11 S 1329/20 - juris Rn. 128, m. w. N.).

71 Dieser Gesamtschau legt der Senat zugrunde, dass angesichts der seit der Machtübernahme durch die Taliban eingetretenen gravierenden weiteren Verschlechterung der nicht erst seit Ausbruch der COVID-19- Pandemie prekären humanitären Verhältnisse in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung sowie in ganz Afghanistan auch im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. mit Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er hinreichende finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. [...]

73 Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Schutzsuchende - wie von ihm behauptet - keinen Zugang zu einem tragfähigen und erreichbaren familiären oder sozialen Netzwerk hat, keine hinreichende Unterstützung durch Dritte erwarten kann und auch nicht über ausreichendes Vermögen verfügt, kann es gleichzeitig aber auch nicht die (positive) Überzeugung gewinnen, dass solche besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, und sieht es keinen Ansatzpunkt für eine weitere Aufklärung, hat es die Nichterweislichkeit der behaupteten (negativen) Tatsachen ("non liquet") festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Bleibt es bei der Unaufklärbarkeit, trägt der Schutzsuchende die materielle Beweislast für die ihm günstige Behauptung, ihm drohe in Afghanistan die Verelendung. [...]

74 (2) Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers ist der Senat nicht zu der Überzeugung gelangt, dass in seiner Person die nach den oben dargestellten Maßstäben engen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. mit Art. 3 EMRK erfüllt sind.

75 Dabei ist davon auszugehen, dass der Kläger - wie oben dargelegt - die von ihm behauptete Eheschließung in Afghanistan und damit auch eine dort bestehende Unterhaltspflicht nicht glaubhaft gemacht hat.

76 Hinzu kommt, dass - wie gleichfalls oben dargelegt - auch die Angaben des Klägers zum Tod von Familienangehörigen, insbesondere seines Vaters, nicht glaubhaft sind. Damit fehlt es auch an einer Grundlage für die Annahme, dem Kläger ermangele es in seinem Heimatland an einem hier hinreichend tragfähigen familiären Netzwerk.

77 Das gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben in der von ihm abgegebenen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 04.01.2023 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 30.01.2022 über ein Barvermögen i. H. von ca. 4.000 EUR verfügt. Diese Summe entspricht ca. 4.286 USD [...].

78 Ausgehend von Kosten für Lebensmittel i. H. von 1.547 AFN (ca. 18 USD bei Zugrundelegung eines Wechselkurses von 1 USD = 86 AFN) monatlich (vgl. die Ausführungen zum Warenkorb im Urteil des Senats vom 22.02.2023 - A 11 S 1329/20 - juris Rn. 178, m. w. N.) ergäbe sich selbst bei einer Verdreifachung dieses Betrages für noch nicht in den Lebensmittelwarenkörben enthaltene Kosten von sicherem Trinkwasser und Flüssiggas [...] sowie von Transportkosten i. H. von 1,22 USD = ca. 105 AFN [...] und einer weiteren Sicherheitsmarge von monatlich 6 USD ein Bedarf von 60 USD im Monat. Kosten der Unterkunft sind angesichts der unglaubhaften Angaben des Klägers zum Fehlen eines tragfähigen familiären Netzwerks nicht in die Berechnung einzustellen. Angesichts dessen ließe sich der Lebensunterhalt des Klägers in Afghanistan von seinem angegebenen Barvermögen rund 71 Monate und damit knapp sechs Jahre bestreiten. Eine alsbald nach der Abschiebung eintretende Verelendung des Klägers lässt sich damit nicht begründen. Auch besteht angesichts des Umstandes, dass für den eigenen Angaben zufolge bereits in Russland erfolgreich unternehmerisch tätigen Kläger während des besagten knapp sechsjährigen Zeitraums ausreichend Gelegenheit besteht, sich gemeinsam mit seinem familiären Umfeld in Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen, kein Anhalt für eine ihm nach dem Verbrauch des eigenen Vermögens in engem zeitlichen Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Verelendung. [...]