VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2023 - A 11 S 1329/20 (Asylmagazin 5/2023, S. 159 ff.) - asyl.net: M31365
https://www.asyl.net/rsdb/m31365
Leitsatz:

Auch leistungsfähigen erwachsenen Männern ohne Unterhaltsverpflichtungen droht regelmäßig eine Art. 3 EMRK-Verletzung in Afghanistan:

"1. Rückkehrern aus dem westlichen Ausland droht nicht allein deshalb Verfolgung durch die Taliban oder die afghanische Aufnahmegesellschaft, weil sie aus Afghanistan ausgereist sind, längere Zeit in einem nicht muslimisch geprägten Land gelebt und dort einen Asylantrag gestellt haben, es sei denn, es liegen besondere, individuell gefahrerhöhende Umstände vor. Ob hierzu auch eine "Verwestlichung" zählen kann, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung.

2. Es kann offenbleiben, ob in der afghanischen Provinz Herat ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrscht. Denn bezogen auf die dortige Sicherheitslage lässt sich kein so hohes Niveau willkürlicher Gewalt feststellen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass für gleichsam jede Zivilperson bei einer Rückkehr dorthin allein durch ihre Anwesenheit tatsächlich die Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit bestünde.

3. Angesichts der seit der Machtübernahme durch die Taliban eingetretenen gravierenden weiteren Verschlechterung der nicht erst seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie prekären humanitären Verhältnisse in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung sowie in ganz Afghanistan sind auch im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen.

Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er hinreichende finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt.

Ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk ist dann gegeben, wenn bei Rückkehr des Betreffenden nach Afghanistan Verwandte oder sonstige Dritte bereit und tatsächlich in der Lage sind, ihn in einem solchen Umfang zu unterstützen, dass seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum befriedigt werden können. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Betreffende über den genannten Personenkreis Zugang zu einer hinreichenden Verdienstmöglichkeit und/oder einer Unterkunft, Nahrung sowie einer Waschmöglichkeit erlangen kann."

(Amtliche Leitsätze; so auch: OVG Sachsen, Urteil vom 10.11.2022 - 1 A 1081/17.A - asyl.net: M31251 und OVG Hamburg, Urteil vom 23.02.2022 - 1 Bf 282/20.A - asyl.net: M30541)

Schlagwörter: Afghanistan, Rückkehrgefährdung, westlicher Lebensstil, Abschiebungsverbot, Taliban, Zwangsrekrutierung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Kabul, Herat, Nahrungsmittelunsicherheit, Arbeitsmarkt, Hunger, Arbeitslosigkeit, alleinstehende junge Männer, keine Unterhaltsverpflichtung
Normen: GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, Richtlinie 2011/95/EU Art. 4 Abs. 3 bis 5, Richtlinie 2011/95/EU Art. 9, Richtlinie 2011/95/EU Art. 10, Richtlinie 2011/95/EU Art. 15, AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b, AsylG § 3c, AsylG § 4, AsylG § 78 Abs. 8 Satz 1, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

2. Die Klage hat - allerdings nur teilweise - auch in der Sache Erfolg. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 2. HS AsylG) hat der Kläger weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (a)) noch (hilfsweise) auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (b)). Ihm steht jedoch ein Anspruch auf Feststellung zu, dass in Bezug auf seine Person die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen (c)). [...]

Bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban konnte in der afghanischen Gesellschaft ein Aufenthalt im westlichen Ausland verbreitet dahin wahrgenommen werden, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem westlichen Lebensstil angepasst. Es herrschte die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-)Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Zugleich konnte sich ein Rückkehrer dem Verdacht ausgesetzt sehen, er habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse [...].

Da seit der Machtübernahme durch die Taliban kaum Personen aus dem nicht muslimisch geprägten Ausland nach Afghanistan zurückgekehrt sind (DIS, Afghanistan, Taliban's impact on the population, Juni 2022, S. 38; SEM, Focus Afghanistan, Verfolgung durch Taliban: Potentielle Risikoprofile, S. 44), lässt sich nur schwer prognostizieren, wie die Taliban mit solchen Rückkehrern umgehen werden (so auch die Einschätzung des SächsOVG, Urteil vom 10.11.2022 - 1 A 1081/17.A - juris Rn. 104). Zur aktuellen Situation rückkehrender Geflüchteter aus Deutschland liegen nach Informationen des Auswärtigen Amtes nur vereinzelt Erkenntnisse vor. Rückführungen aus Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten sind gegenwärtig ausgesetzt [...].

Der spärlichen Informationslage lassen sich keine belastbaren Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Rückkehrern aus dem westlichen Ausland allein deshalb Verfolgung durch die Taliban - oder dritte Akteure - droht, weil sie aus Afghanistan ausgereist sind, längere Zeit in einem nicht muslimisch geprägten Land gelebt und dort einen Asylantrag gestellt haben [...].

Dieser Befund schließt es freilich nicht aus, dass in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen, eine Verfolgung aufgrund von Religion (im Sinne eines - unterstellten - Abfalls vom Glauben), politischer Überzeugung (im Sinne einer - unterstellten - oppositionellen Einstellung) oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar ist. Dazu bedarf es bei einer solchen Person besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände [...]. Zu den von den Taliban als regimefeindlich angesehenen Personen gehören nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln u.a. Personen in zentralen Positionen der früheren Regierung wie Streitkräften, Polizei und Ermittlungseinheiten, Personen, die für ausländische Streitkräfte gearbeitet haben, Journalisten, Medienschaffende und Menschenrechtsaktivisten, die den Taliban nach deren Auffassung kritisch gegenüberstehen, und allgemein Personen, die offen Kritik an den Taliban äußern, sowie Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten [...].

Ob und inwieweit eine "Verwestlichung" die Gefahr einer Verfolgung in Afghanistan nach sich ziehen kann [...] kann hier letztlich offenbleiben. [...]

(2) Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung in seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus dem nicht muslimisch geprägten Ausland.

(a) Wie bereits oben ausgeführt, sind kaum Erkenntnisse darüber vorhanden, wie die Taliban und/oder die afghanische Aufnahmegesellschaft Rückkehrer, die sich längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten haben, behandeln werden; erfolgversprechende Ansätze für weitere Ermittlungen sind nicht vorhanden.

Vor diesem Hintergrund ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass die Taliban Rückkehrer, die sich längere Zeit im nicht muslimisch geprägten Ausland aufgehalten haben, allein aufgrund des erfolgten Auslandsaufenthalts foltern oder sonst unmenschlich oder erniedrigend behandeln oder bestrafen werden, insbesondere etwa in Form von gewaltsamen Verhören bei Ankunft an einem der internationalen Flughäfen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - der Rückkehrer nicht in exponierter Weise "verwestlicht" ist. [...]

(b) Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger Versuchen der Taliban ausgesetzt sein wird, ihn zwangsweise zu rekrutieren [...].

Bereits vor Machtergreifung durch die Taliban waren Zwangsrekrutierungen [...] selbst in Gebieten, die damals von ihnen kontrolliert wurden, nicht in einem Maße festzustellen, dass jeder männliche Bewohner, der etwaigen Anforderungen an Alter, Kampffähigkeit etc. entspricht, der tatsächlichen Gefahr unterlag, gegen seinen Willen vereinnahmt zu werden [...]. Die Taliban haben bereits vor dem Regimewechsel grundsätzlich keinen Mangel an freiwilligen Rekruten gehabt und nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierungen Gebrauch gemacht [...]. So sollen etwa Kinder Opfer von Zwangsrekrutierungen geworden sein [...].

(3) Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht ein ernsthafter Schaden wegen der dortigen schlechten humanitären Situation. Diesbezüglich fehlt es an einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG, von dem zielgerichtet eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgeht. [...]

Nach diesen Maßstäben mangelt es hier an einem Akteur, dem die schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan zuzurechnen sind [...].

Die Taliban dürften zwar als de-facto-Machthaber zumindest als Partei bzw. Organisation anzusehen sein, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staates beherrschen (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 2 AsylG), wenn nicht möglicherweise sogar als der Staat selbst (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 1 AsylG). Die schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan sind aber nicht durch ein zielgerichtetes Handeln oder Unterlassen der Taliban (oder auch der zuvor herrschenden Regierung) hervorgerufen bzw. verstärkt worden. Schlechte humanitäre Verhältnisse in einem Land sind vielmehr typischerweise - und so auch hier - auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen. Bedarf es für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG eines Akteurs, dem die unmenschliche Lebenssituation zuzurechnen ist, muss diese jedenfalls maßgeblich und nicht nur in geringem Umfang auf das bewusste und zielgerichtete Handeln eines Akteurs zurückzuführen sein (BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 15). Hiervon ist vorliegend nicht auszugehen. Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) in Afghanistan ist auf zahlreiche Probleme zurückzuführen, die unter anderem in den Bereichen der Sicherheitslage, der Infrastruktur, der Nahrungs- und Wasserversorgung, der medizinischen Versorgung und der Wirtschaft bestehen und damit aus vielen verschiedenen Ursachen herrühren und nicht etwa zielgerichtet oder sonst zurechenbar durch einen der in Betracht kommenden Akteure herbeigeführt worden sind. Afghanistan ist seit Jahrzehnten geprägt von gewaltsamen Auseinandersetzungen, zuletzt von einem jahrelangen bewaffneten Konflikt zwischen den Taliban einerseits und den afghanischen Regierungstruppen und deren westlichen Verbündeten andererseits. Dies dürfte zwar auch zur Verschlechterung der Lebensbedingungen der afghanischen Zivilbevölkerung beigetragen haben, aber "nur" als Kollateralschaden der intensiven kämpferischen Auseinandersetzungen. Maßnahmen der Taliban bzw. der früheren Regierung, die sich auf die humanitäre Lage auswirkten, zielten nicht auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung ab, sondern waren Mittel zum Zweck im Kampf um die Vorherrschaft. Gleiches gilt mit Blick auf die seit langem bestehende schlechte Wirtschaftslage, die sich infolge der Machtergreifung durch die Taliban Mitte August 2021 noch weiter verschärft hat. Den Erkenntnismitteln kann nicht entnommen werden, dass die Taliban bewusst eine Verschlechterung der humanitären Bedingungen herbeiführen wollten bzw. wollen. Dagegen spricht auch, dass Hilfsorganisationen im "Islamischen Emirat Afghanistan" tätig sein können [...]. Hinzu kommt, dass die schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan nicht unmaßgeblich auch auf schwierige klimatische Bedingungen und Naturkatastrophen sowie jüngst die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind. Nachdem etwa das Land bereits im Jahre 2018 von einer schweren Dürre gezeichnet war [...], kam es im Jahre 2021 zur schwersten Dürre seit 30 Jahren [...], die massiv zur weiteren Verschlechterung der humanitären Situation in Afghanistan beigetragen hat.

cc) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. [...]

In der Rechtsprechung wird - soweit ersichtlich - seit Machtübernahme durch die Taliban überwiegend davon ausgegangen, dass in Afghanistan kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt (mehr) besteht [...].

Zur Bestimmung der hierfür erforderlichen Gefahrendichte ist kein auf alle Konfliktlagen anzuwendender "Gefahrenwert" im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen, quantitativen Mindestschwelle anzuwenden, sondern es bedarf einer umfassenden Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnen (vgl. EuGH, Urteil vom 10.06.2021 <CF und DN> - C-901/19 - Rn. 40, 45; BVerwG, Beschluss vom 13.12.2021 - 1 B 85.21 - juris Rn. 4; Berlit, ZAR 2021, 289 <291 f.>). [...]

Nach diesen Maßstäben ist die erforderliche Gefahrendichte für die Provinz Herat aktuell nicht festzustellen (so im Ergebnis auch SächsOVG, Urteil vom 10.11.2022 - 1 A 1081/17.A - juris Rn. 126).

Zunächst lässt sich in Bezug auf ganz Afghanistan allgemein festhalten, dass sich die sicherheitspolitische Lage seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 massiv verändert hat. Nachdem das Ausmaß der Gewalt in den Sommermonaten 2021 zugenommen hatte und der Juni 2021 der bis dahin "tödlichste Monat" mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan war [...], folgte nach der Machtübernahme durch die Taliban ein deutlicher Rückgang kämpferischer Auseinandersetzungen und der damit verbundenen willkürlichen Gewalt [...]. Die Kämpfe gegen die Sicherheitskräfte der ehemaligen Regierung haben aufgehört, und die Taliban haben den Krieg offiziell für beendet erklärt. [...]

Ungeachtet der von den Taliban im August 2021 verkündeten Generalamnestie referieren die zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel übereinstimmend von glaubwürdigen Berichten über außergerichtliche Tötungen, Folter, Misshandlungen und andere Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungsbeamte und Mitglieder der ehemaligen afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte sowie gegen Personen, die verdächtigt werden, Anhänger von Anti-Taliban-Milizen, wie etwa der Nationalen Widerstandsfront (NRF) oder des ISKP, zu sein [...]. In vielen Städten suchten die Taliban nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen, bedrohten sie und nahmen sie manchmal fest oder richteten sie hin [...].

Zudem kommt es weiterhin landesweit zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und diversen bewaffneten Widerstandsgruppen [...]. Die größte Gruppe, die derzeit gegen die Taliban kämpft, ist die NRF. Im Sommer 2022 fanden die meisten Auseinandersetzungen zwischen der NRF und den Taliban in den Provinzen Panjshir, Baghlan, Takhar, Nangarhar und Kapisa statt [...].

Während eine Reihe von Quellen aufgehört haben, über die afghanische Sicherheitslage zu berichten, und auch sonst die Berichterstattung über bewaffnete Auseinandersetzungen stark eingeschränkt ist [...].

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan volatil, aber das Land in seiner Gesamtheit für die Zivilbevölkerung (relativ gesehen) weniger "gefährlich" ist als in der Zeit vor August 2021. Insbesondere die ländlichen Gebiete sind sicherer geworden, und die Menschen können in Gegenden reisen, die in den letzten 15 bis 20 Jahren als zu gefährlich oder unzugänglich galten, da sich die Sicherheit auf den Straßen durch den Rückgang improvisierter Sprengsätze verbessert hat [...].

Die Provinz Herat, deren Bevölkerung sich Schätzungen zufolge aktuell auf ca. 2,2 bis 2,8 Millionen Einwohner beläuft [...], ist laut den letzten Berichten des UN-Generalsekretärs eine der aktuell am meisten von Konflikten betroffenen Provinzen in Afghanistan [...].

Nach Informationen von EUAA berichtete die International Crisis Group im März 2022, dass die Taliban ihre ursprünglich im Norden des Landes gestarteten Sicherheitsoperationen gegen die NRF auf mehrere andere Regionen und Provinzen, einschließlich der Provinz Herat, ausgeweitet hätten [...]. Im Mai und Juni 2022 sollen die Taliban Hausdurchsuchungen in der Provinz Herat durchgeführt haben [...]

Nach alledem genügt das in der Provinz Herat vorherrschende Ausmaß an Gewalt nicht für die Annahme, dass für den Kläger aufgrund der allgemeinen Gegebenheiten die tatsächliche Gefahr des Erleidens eines ernsthaften Schadens besteht. Die allgemeine Sicherheitslage in der Provinz Herat ist insofern stabil, als die bloße Anwesenheit dort nicht zu einer relevanten Gefahr für den Einzelnen führt. Das Risiko, durch Kampfhandlungen, Anschläge oder sonstige Gewalt (auch) gegen Zivilisten verletzt oder getötet zu werden, liegt in Herat unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die Gefahrendichte in der Provinz Herat ist niedriger als in manch anderen Provinzen Afghanistans. Gefahr für die Zivilbevölkerung geht im Wesentlichen von den Taliban, dem ISKP und weiteren bewaffneten Gruppierungen aus. Dabei richten sich die Attacken der Taliban in erster Linie gegen Angehörige der früheren Regierung bzw. gegen deren ehemalige Sicherheitskräfte sowie gegen Personen, die verdächtigt werden, talibanfeindlichen Gruppierungen anzuhängen. Zudem leidet die Provinz Herat, insbesondere ihre Hauptstadt, unter Anschlägen durch talibanfeindliche Akteure, hauptsächlich wohl durch den ISKP, der vornehmlich schiitische Ziele attackiert. Auch wenn die Berichterstattung insoweit erschwert ist, lässt sich feststellen, dass in der Provinz Herat deutlich weniger konfliktbedingte zivile Opfer zu verzeichnen sind als vor der Machtergreifung durch die Taliban. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass seit Beginn des Jahres 2022 kaum Vertreibungsbewegungen festzustellen sind, sondern vielmehr Binnenvertriebene sich in der Provinz Herat niedergelassen haben und noch nicht zurückgekehrt sind. Auch dies spricht dafür, dass Herat als vergleichsweise sicher einzustufen ist. Jedenfalls für den Kläger besteht vor diesem Hintergrund keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Denn er weist kein erhöhtes Gefährdungspotential auf. Weder hat er für die frühere Regierung gearbeitet, noch ist er für talibanfeindliche Gruppierungen aktiv gewesen. Als sunnitischer Paschtune gehört er auch keiner (stärker exponierten) ethnischen oder religiösen Minderheit an.

c) Hinsichtlich des Begehrens auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hat die Klage hingegen Erfolg. [...]

Ob diese Voraussetzungen im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Rückkehrers nach Afghanistan, in dessen Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, regelmäßig erfüllt sind, wurde in der obergerichtlichen Rechtsprechung bis zur Machtübernahme durch die Taliban Mitte August 2021 uneinheitlich beurteilt (bb)). Angesichts der seit dem Regimewechsel weiteren gravierenden Verschlechterung der ohnehin nicht erst seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie prekären humanitären Lage in Afghanistan ist der erkennende Senat - auch unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht in dessen Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 19 ff. aufgezeigten Maßstäbe - der Auf-fassung, dass auch im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (cc)). Danach liegt hier ein Fall vor, in dem humanitäre Gründe der Abschiebung des Klägers im Sinne von Art. 3 EMRK zwingend entgegenstehen (dd)). [...]

Das wirtschaftliche Existenz minimum ist jedenfalls dann gesichert, wenn der Betroffene über ausreichen-des verwertbares Vermögen verfügt oder mit ausreichenden Zuwendungen von dritter Seite rechnen kann. Außerdem ist die Erfüllung der oben angesproche-nen Grundbedürfnisse dann hinreichend gesichert, wenn erwerbsfähige Perso-nen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 17 sowie Beschlüsse vom 17.05.2006 - 1 B 100.05 - juris Rn. 11 und vom 09.01.1998 - 9 B 1130.97 - juris Rn. 5; vgl. in anderem Zusammenhang ferner EuGH, Urteil vom 02.10.2019 <Bajratari> - C-93/18 - Rn. 48; BVerwG, Urteil vom 23.09.2020 - 1 C 27.19 - juris Rn. 32). [...]

Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, wonach nicht entscheidend ist, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 25). [...]

Bei der Prüfung, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegt, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet [...]. Stellen die dortigen Verhältnisse einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, ist zu prüfen, ob auch in anderen Landesteilen, die der Ausländer auf ihm zumutbare Weise erreichen kann, derartige Umstände vorliegen [...].

bb) Bis zum Ausbruch der COVID-19-Pandemie stimmte die obergerichtliche Rechtsprechung mit Blick auf die humanitäre Situation in Afghanistan darin überein, dass die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Falle leistungsfähiger erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland selbst dann nicht erfüllt waren, wenn sie über kein familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk verfügten. Anderes wurde nur angenommen, wenn in der Person oder den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden konnten [...].

Der erkennende Senat hat mit - inzwischen durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 21.04.2021 - 1 C 10.21 - juris) aufgehobenem - Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris Rn. 105 die Auffassung vertreten, dass angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, wobei derartige Umstände insbesondere dann gegeben sein können, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er hinreichende finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt.

Diesem Ansatz sind der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Urteil vom 07.06.2021 - 13a B 21.30342 - juris 14) und zunächst auch das Hamburgische Oberverwaltungsgericht (Urteil vom 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A - juris Rn. 65) nicht gefolgt (ebenso auch VG Freiburg, Urteil vom 05.03.2021 - A 8 K 2716/17 - juris Rn. 46). Mit Urteil vom 23.02.2022 - 1 Bf 282/20.A - juris Rn. 38 hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht indes entschieden, dass sich die humanitäre Situation in Afghanistan seit der Entscheidung vom 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A - in einer für die Beurteilung am Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK maßgeblichen Weise verschlechtert habe. Aufgrund dieser Veränderungen sei derzeit davon auszugehen, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende afghanische Männer, die im heimischen Kulturkreis sozialisiert wurden und mindestens eine der Landessprachen sprechen, bei Rückkehr nach Afghanistan nicht ohne weiteres zur Sicherung ihres Existenzminimums in der Lage sein werden. Eine andere Bewertung sei jedoch bei Hinzutreten besonderer Umstände in der Person des Betroffenen geboten, wenn diese die Prognose erlauben, ihm werde die Sicherung des Existenzminimums im Einzelfall trotz der derzeitigen humanitären Lage in Afghanistan gelingen. Solche positiven Umstände, die im Einzelfall eine Sicherung des Existenzminimums erwarten lassen, lägen insbesondere vor, wenn der Betroffene Zugang zu qualifizierter Arbeit wird erlangen können, über ein bestehendes tragfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk in Afghanistan, erhebliches Vermögen oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland verfügt; maßgeblich sei eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls. Mit Urteil vom 10.11.2022 - 1 A 1081/17.A - juris - hat auch das Sächsische Oberverwaltungsgericht seine bisherige Rechtsprechung geändert und entschieden, dass selbst gesunde und leistungsfähige junge Männer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne familiäre oder soziale Netzwerke nicht mehr in der Lage seien, sich auf niedrigem Niveau jedenfalls in Kabul eine Existenzgrundlage aufzubauen. Angesichts der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen in den Familien vor Ort sowie dem Misstrauen bis hin zur Ablehnung, dem abgelehnte Asylbewerber aus dem westlichen Ausland in Afghanistan begegneten, könne auch die Reintegration eines Rückkehrers in einen in Afghanistan vorhandenen Familienverband nicht ohne Weiteres erwartet werden (SächsOVG, Urteil vom 10.11.2022 - 1 A 1081/17.A - juris Rn. 148).

Weitere obergerichtliche Rechtsprechung zu der Thematik ist seither - soweit ersichtlich - nicht ergangen.

cc) Der erkennende Senat ist angesichts der seit dem Regimewechsel gravierenden weiteren Verschlechterung der nicht erst seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie prekären humanitären Verhältnisse in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung [...] und in ganz Afghanistan weiterhin der Auffassung, dass auch im Falle eines leistungsfähigen erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er in hinreichendem Maße finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt [...] Ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk ist dann gegeben, wenn bei Rückkehr des Betreffenden nach Afghanistan Verwandte oder sonstige Dritte bereit und tatsächlich in der Lage sind, ihn in einem solchen Umfang zu unterstützen, dass seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum befriedigt werden können. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Betreffende über den genannten Personenkreis Zugang zu einer hinreichenden Verdienstmöglichkeit und/oder einer Unterkunft, Nahrung sowie einer Waschmöglichkeit erlangen kann. [...]

(a) Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Zahlungen abhängig. [...]

(b) Afghanistan ist mit einer der größten Nahrungssicherheitskrisen weltweit und einer Mangelernährungskrise beispiellosen Ausmaßes konfrontiert (EUAA, Key socio-economic indicators in Afghanistan and in Kabul City, August 2022, S. 32). [...]

Afghanistan wird zudem - bedingt auch durch den Klimawandel - regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht (IOM, Information on the socio-economic situation in Afghanistan, 12.01.2023, S. 2; EUAA, COI QUERY Afghanistan: Major legislative, security-related, and humanitarian developments, 04.11.2022, S. 14; The World Bank, Afghanistan Development Update, Oktober 2022, S. 6). So erleidet das Land bereits seit mehreren aufeinanderfolgenden Jahren eine der schlimmsten Dürren seit Jahrzehnten. [...]

(c) Der Arbeitsmarkt in Afghanistan stand bereits vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie und dem Regimewechsel im August 2021 unter enormem Druck (vgl. ausführlich hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 225 ff.). [...] 80 % der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen [...]. Eine hohe Zahl an Rückkehrern und Binnenvertriebenen erhöhten den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich [...].

Die - insbesondere von Arbeitsmigranten erbrachten - Überweisungen aus dem Ausland ("remittances"), auf welche viele Afghanen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen sind, sind nach der Machtübernahme durch die Taliban drastisch eingebrochen. [...]

(d) Auch wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan, wie oben bereits beschrieben, im Vergleich zu der Zeit vor dem Regimewechsel deutlich verbessert hat, sind gerade in Kabul immer wieder sicherheitsrelevante Zwischenfälle zu verzeichnen, bei denen auch Zivilisten zu Schaden oder gar zu Tode kommen. [...]

(e) Die Krise im Land wird durch grenzüberschreitende und interne Migrationsdynamiken beträchtlichen Ausmaßes verstärkt (IOM, Information on the socioeconomic situation in Afghanistan, 12.01.2023, S. 2). Die Zahl der Afghanen, die ohne gültige Papiere ("undocumented") nach Afghanistan zurückgekehrt sind, war im Jahre 2022 fast doppelt so hoch wie vor der Pandemie. Die meisten von ihnen wurden aus dem Iran abgeschoben. Zwischen dem 01.01. und dem 31.08.2022 kehrten mindestens 615.124 Menschen ohne Papiere (560.709 aus dem Iran und 54.415 aus Pakistan) nach Afghanistan zurück [...].

(f) Die Preise für Grundnahrungsmittel befinden sich auf einem historischen Höchststand und werden Schätzungen zufolge noch weiter steigen oder sich auf einem hohen Niveau stabilisieren [...].

In mehreren Städten, darunter auch Kabul, haben weniger als 20 % der städtischen Bevölkerung Zugang zu Leitungswasser. [...]

(g) Rückkehrer aus dem westlichen Ausland stehen vor besonderen Herausforderungen. Die afghanische Gesellschaft begegnet Rückkehrern aus Europa und anderen Regionen der Welt häufig mit Misstrauen [...]. Angesichts der derzeitigen desolaten Wirtschaftslage ist es noch wichtiger für einen Rückkehrer geworden, ein soziales Netzwerk zu haben, das ihn versorgen kann [...].

Nach aktueller Einschätzung des Auswärtigen Amtes dürften Rückkehrende nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern [...].

(h) Der UN-Generalsekretär rechnet mit 28,3 Millionen Menschen, also etwa zwei Dritteln der Bevölkerung Afghanistans, die im Jahre 2023 auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden [...] Für immer mehr Menschen stellt die humanitäre Hilfe die einzige Überlebensquelle dar [...].

(i) Auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen wie z.B. das Rückkehrförderprogramm REAG/GARP (ergänzt durch das StarthilfePlus-Programm), ERRIN-Hilfen oder Unterstützung durch IOM können Rückkehrer derzeit nicht verwiesen werden. [...]

(2) Der Senat ist nach Würdigung der herangezogenen Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass es auch einem leistungsfähigen, alleinstehenden erwachsenen Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan regelmäßig nur bei Vorliegen besonderer begünstigender Umstände gelingen wird, dort auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Die Sicherung der eigenen Existenz ist ohne tragfähiges Netzwerk, hinreichende Zuwendungen Dritter oder ausreichendes eigenes oder sonstiges Vermögen in Afghanistan grundsätzlich nur durch die Erzielung eines Erwerbseinkommens möglich. Spätestens seit der Machtübernahme durch die Taliban hat ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland indes kaum Aussicht, ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu erzielen, sofern er nicht über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, das bereit und in der Lage ist, ihm Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen.

Den zahlreichen ausgewerteten Erkenntnisquellen lässt sich entnehmen, dass die schon seit Jahren chronisch schwache afghanische Wirtschaft, die bereits von den Auswirkungen der Pandemie schwer und nachhaltig beeinträchtigt worden war, infolge der Ereignisse im August 2021 kollabiert ist. Der wirtschaftliche Zusammenbruch ist zu einem Großteil auf die abrupte Kürzung ausländischer Hilfsgelder und die Unterbrechung internationaler Finanztransaktionen nach dem Regimewechsel zurückzuführen. Die Sanktionsmaßnahmen hatten eine nachhaltige Krise des afghanischen Finanz- und Bankensystems zur Folge und bewirkten eine schwere Liquiditätskrise des Staates, eine Abwertung der afghanischen Währung und einen Anstieg der Inflation. Der freie Fall der afghanischen Wirtschaft scheint zwar inzwischen aufgehalten und eine leichte Stabilisierung auf sehr niedrigem Niveau eingetreten zu sein, eine Besserung der Wirtschaftslage ist aber vorerst nicht in Sicht. Vielmehr wird es noch Jahre dauern, bis sich die Wirtschaft von den erlittenen "Schocks" erholen wird, und dies auch nur im Falle eines "best-case-Szenarios". Die weitere Entwicklung wird nicht nur von der zwar verbesserten, aber immer noch volatilen Sicherheitslage abhängen, sondern auch und massiv von der Bereitschaft internationaler Geldgeber, Afghanistan zu unterstützen und dringend benötigte Entwicklungshilfegelder zukommen zu lassen. Angesichts der weitgehenden internationalen Isolierung der Taliban sowie der aktuellen politischen Entwicklungen im Land erscheint indes eine Unterstützung des islamistischen Regimes durch den Westen, die über die Leistung dringend benötigter humanitärer Hilfe hinausgeht, ausgeschlossen.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch hat sich negativ auf den nicht erst seit der COVID-19-Pandemie äußerst angespannten Arbeitsmarkt ausgewirkt. Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit ist infolge der beschriebenen wirtschaftlichen Entwicklung seit August 2021 stark angestiegen. Die Chancen, eine Anstellung zu finden oder sich zumindest als Tagelöhner verdingen zu können, sind gravierend gesunken. Seit Ausbruch der Pandemie, noch mehr aber seit dem Regimewechsel sind in Afghanistan zahllose Arbeitsplätze und Angebote für Tätigkeiten als Tagelöhner verloren gegangen. Die Anzahl der für Gelegenheitsarbeiter verfügbaren Arbeitstage pro Woche ist im Verlaufe der letzten zwei Jahre um fast 40 % gesunken. Um die wenige verfügbare Arbeit herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Nach dem Machtwechsel im August 2021 haben viele Mitarbeiter der früheren Regierung, der Streitkräfte, von Nichtregierungsorganisationen und humanitären Organisationen ihre Arbeit verloren, die nun zusätzlich auf den Tagelöhnermarkt strömen, um Einkommensverluste zu kompensieren. Weiter drastisch erhöht wird der Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt durch eine Vielzahl an Rückkehrern aus dem Iran und aus Pakistan sowie durch Binnenmigranten. Mit diesen verstärkten Migrationsbewegungen geht einher, dass angesichts der demographischen Struktur der afghanischen Bevölkerung eine Vielzahl an jungen arbeitslosen Männern auf die städtischen Tagelöhnermärkte drängt. Hierdurch wird der Konkurrenzdruck weiter erhöht, was wiederum zu sinkenden Chancen auf dem Tagelöhnermarkt führt. Weiter gilt es zu bedenken, dass Arbeitskräfte aus den bislang vom Ausland aus unterstützten Haushalten, infolge des Einbruchs an "remittances" nun gezwungen sind, sich neue Einnahmequellen zu erschließen.

Vor dem Hintergrund, dass immer mehr Menschen um immer weniger Arbeit ringen, spielt die Existenz eines familiären oder sozialen Netzwerks gerade für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland eine noch essentiellere Rolle als schon vor der Machtübernahme durch die Taliban. Die wenigen vorhandenen Arbeitsangebote werden in aller Regel über Beziehungen vergeben. Dass ein Rückkehrer, der mehrere Jahre im westlichen Ausland gelebt hat und über kein tragfähiges Netzwerk in Afghanistan verfügt, eine Anstellung oder einen Tagelöhner-Job finden wird, erscheint angesichts der immensen Bedeutung des Netzwerks als Schlüssel zum Arbeitsmarkt nahezu ausgeschlossen. Vielmehr wird ihm - unabhängig von der Frage der fachlichen Qualifikation - regelmäßig derjenige vorgezogen werden, der dem Arbeitgeber über ein Netzwerk vermittelt worden ist. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass sich ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne Netzwerk eine selbständige Existenz oder aus eigener Kraft ein Netzwerk wird aufbauen können.

Sofern ein Job auf dem Tagelöhnermarkt gefunden wird, reicht das Einkommen derzeit nicht aus, um das Existenzminimum auf einfachstem Niveau zu sichern. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein aus dem westlichen Ausland Abgeschobener davon eine "Erstausstattung" finanzieren muss, wie es bei der erstmaligen Niederlassung an einem Ort erforderlich ist (Schlafmöglichkeiten, Kochutensilien, Bekleidung usw., evtl. auch Heizgeräte oder Kautionszahlungen für die Anmietung einer Unterkunft). Die Löhne befinden sich bereits seit Jahren auf einem sehr niedrigen Niveau. Zugleich sind die Preise für die wichtigsten Grundnahrungsmittel seit der Machtübernahme durch die Taliban massiv angestiegen und befinden sich auf einem historischen Höchststand. Hiermit geht seit Mitte August 2021 wiederum eine massive Reduzierung der Kaufkraft eines Tagelöhners einher, die im Zwei-Jahres-Vergleich um 60 % abgenommen hat. Übereinstimmenden Prognosen zufolge sind Armut und Nahrungsmittelunsicherheit infolge des Regimewechsels drastisch angestiegen. Nahrungsmittel sind zwar im ganzen Land verfügbar, aber den Menschen fehlt es für den Erwerb an den notwendigen finanziellen Mitteln. Fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans ist von akuter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, nachdem es Mitte des Jahres 2020 noch ein Drittel gewesen ist. Neun von zehn Haushalten sind mit unzureichender Nahrung konfrontiert. Auch wenn die Mieten seit dem Regimewechsel gesunken sind, erscheint ausgeschlossen, dass ein leistungsfähiger, alleinstehender erwachsener Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, in dessen Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, in der Lage sein wird, sein Existenzminimum aus eigener Kraft zu sichern. Selbst wenn man unterstellt, dass es ihm gelingen würde, in dem derzeit durchschnittlich zur Verfügung stehenden Umfang Arbeit auf dem Tagelöhnermarkt zu finden, wird das damit zu erzielende Einkommen zur Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene über einen absehbaren Zeitraum nicht ausreichen. Geht man von einer durchschnittlichen Verdienstmöglichkeit auf dem Tagelöhnermarkt in Höhe von etwa 2.190 AFN aus, so verbleiben nach Abzug der oben errechneten Kosten allein für Nahrung (1.547 AFN) nur noch 643 AFN, von denen der Rückkehrer Unterkunft, Trinkwasser, Kochbrennstoff, Heizen, Strom, Wasser zum Waschen sowie sogenannte Würdeartikel bestreiten muss, was ersichtlich nicht ausreicht, selbst wenn man für die Miete den niedrigsten in den Erkenntnismitteln genannten Preis (600 AFN) ansetzt. Hinzu kommen Aufwendungen für die Nutzung öffentlicher oder privater Verkehrsmittel, ohne die es dem Rückkehrer im Regelfall nicht möglich sein dürfte, sich mit Aussicht auf Erfolg in den Konkurrenzkampf um Gelegenheitsarbeiten einzubringen.

Im Falle der freiwilligen Rückkehr gewährte finanzielle Hilfen, auf deren Inanspruchnahme sich der Ausländer grundsätzlich auch im Rahmen der Prüfung, ob ein an eine staatliche Zwangsmaßnahme anknüpfendes Abschiebungsverbot vorliegt, verweisen lassen muss (BVerwG, Urteile vom 21.04.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 25 und vom 15.04.1997 - 9 C 38.96 -, juris Rn. 27; vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, juris S. 40), stehen anders als in der Vergangenheit derzeit nicht zur Verfügung.

Dass das Existenzminimum eines leistungsfähigen, alleinstehenden erwachsenen Rückkehrers aus dem westlichen Ausland, in dessen Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, durch humanitäre Hilfen vor Ort gesichert werden wird [...] ist nicht hinreichend wahrscheinlich [...] Soweit internationale Hilfsorganisationen in Afghanistan überhaupt noch tätig sind, stehen sämtliche Hilfeleistungen unter dem Vorbehalt der Bereitstellung der notwendigen finanziellen Mittel durch westliche Geberstaaten. Die benötigten Gelder werden allerdings bislang bei weitem nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung gestellt. Hinzu kommt, dass angesichts des jüngst von den Taliban verkündeten Verbots der Mitarbeit von Frauen in internationalen Hilfsorganisationen viele Organisationen ihre humanitäre Hilfe vorerst eingestellt haben. Wie die geplante Einstellung humanitärer Hilfszahlungen durch die Bundesregierung zeigt, wird sich das Arbeitsverbot aller Voraussicht nach auch negativ auf die Bereitstellung humanitärer Hilfsgelder durch westliche Geberstaaten auswirken. Hinsichtlich der konkreten Hilfeleistungen vor Ort ist zudem unwahrscheinlich, dass auch ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, welcher der oben beschriebenen Personengruppe angehört, Zugang zu ihnen erhalten würde. Dies gilt namentlich für die sog. PARRs und für die Bereitstellung von Barbeträgen im Rahmen des UNHCR-Programms Afghanistan Voluntary Repatriation.

dd) Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass in seiner Person die nach den oben dargestellten Maßstäben engen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind. Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es dem Kläger nicht gelingen würde, in Afghanistan wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen. [...]

Nach aktueller Einschätzung des Senats kann die auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG gerichtete Klage eines leistungsfähigen erwachsenen afghanischen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen nur dann Erfolg haben, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. [...]

Der Kläger gehört zur Gruppe der leistungsfähigen erwachsenen Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen. [...]

Nach Überzeugung des Senats würden allein die körperliche Leistungsfähigkeit des Klägers und seine durch Schul- und Universitätsbildung sowie in Ausübung verschiedener Tätigkeiten erworbenen fachlichen Kompetenzen ihn derzeit nicht davor bewahren, im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Kürze zu verelenden. Der Senat ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ferner davon überzeugt, dass in der Person des Klägers keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Annahme entgegenstehen, er werde in Afghanistan verelenden. [...]