VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 24.03.2023 - 15 B 2125/23 - asyl.net: M31485
https://www.asyl.net/rsdb/m31485
Leitsatz:

Voraussichtlich rechtswidrige Abschiebungsanordnung nach Italien wegen systemischer Mängel:

1. Schutzsuchenden droht in Italien eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit.

2. Daher kommt es auf die Frage, ob aufgrund der von den italienischen Behörden im Dezember 2022 abgegebenen Erklärungen auf eine dem Erlass einer Abschiebungsanordnung entgegenstehende fehlende Übernahmebereitschaft Italiens geschlossen werden kann, nicht an.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, Obdachlosigkeit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist zwar Italien grundsätzlich zuständig. Der Antragsteller ist ausweislich der EURODAC-Treffermeldung aus einem Drittstaat kommend illegal in das Gebiet der Mitgliedstaaten nach Italien eingereist. Die italienischen Behörden haben nicht innerhalb der Zweimonatsfrist des Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO auf das Übernahmeersuchen des Bundesamtes geantwortet, sodass sie gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO verpflichtet sind, den Antragsteller wiederaufzunehmen.

Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die ursprüngliche Zuständigkeit Italiens aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergangen ist. [...]

Nach dieser Maßgabe liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ernstzunehmende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel im italienischen Asylsystem vor, die die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung des Antragstellers i.S.d. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen. Dem Antragsteller droht zur Überzeugung der Einzelrichterin in Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit. [...]

Zwar gibt es regional organisierte Notunterkünfte, die meist von Trägern des sog. Dritten Sektors, also nicht staatlich von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen, betrieben werden. Diese sind jedoch nicht langfristig ausgerichtet, manche von ihnen haben Verträge mit der Gemeinde und werden vor allem zu Winterzeiten geöffnet. Die Dauer dieser Projekte der Aufnahme hängt von der Verfügbarkeit der finanziellen Mittel ab, sie sind mithin nicht kontinuierlich garantiert. Diese Einrichtungen haben nur wenige Plätze zur Verfügung, die die Nachfrage nach Unterbringung derer, die auf der Straße leben müssen, nicht decken. Die Familieneinheit kann nicht immer berücksichtigt werden, sodass Eltern gegebenenfalls nur separate Plätze für sich und ihre Kinder angeboten werden. Die Plätze unterliegen zudem einem Rotationssystem und sind nur für kurze Zeit nutzbar, damit möglichst viele Menschen für einige Tage dort unterkommen können. Neben der Rotation müssen die Bewohner in der Zeit ihres Aufenthaltes die Zentren tagsüber verlassen und haben keine Möglichkeit, ein geregeltes Leben zu führen. Ein Großteil des Tages muss für die Deckung der Grundbedürfnisse, z. B. in die Nahrungsfindung (Schlangestehen vor karitativen Suppenküchen), investiert werden, was es den Geflüchteten unter anderem unmöglich macht, sich eine Arbeit zu suchen (SFH, Situation von aus dem Ausland zurückkehrenden Schutzberechtigten (insbes. hinsichtlich einer Unterkunft), 29.04.2022, S. 4-5; SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 68). [...]

Bei dieser Sachlage ist nach Überzeugung der Einzelrichterin nicht davon auszugehen, dass es dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach Italien gelingen wird, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere vor seiner förmlichen Registrierung als Asylantragsteller und nach dem Abschluss seines Asylverfahrens eine Unterkunft zu finden. Mithin droht ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein von seinem Willen unabhängiger Zustand der Verelendung in Form von Obdachlosigkeit und damit eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK.

Nach alledem kommt es auch auf die in der aktuellen Rechtsprechung uneinheitlich beantwortete Frage nicht an, ob aufgrund der von den italienischen Behörden im Dezember 2022 abgegebenen Erklärungen auf eine dem Erlass einer Abschiebungsanordnung entgegenstehende fehlende Übernahmebereitschaft Italiens geschlossen werden kann. Hiernach setzt Italien wegen "plötzlich aufgetretener technischer Gründe" und der "Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen" die Aufnahme von Asylbewerberinnen und -bewerbern im Rahmen des Dublin-Verfahrens "vorübergehend" aus (eine fehlende Übernahmebereitschaft Italiens bejahend u.a.: VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A - und VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Januar 2023 - 1a L 1642/22.A -, verneinend u.a.: VG Göttingen, Beschluss vom 6. Januar 2023 - 1 B 170/22 - und VG Aachen, Beschluss vom 18. Januar 2023 - 9 L 22/23.A -, jeweils juris). Die Schreiben der italienischen Behörden verdeutlichen jedoch nochmals die aktuelle Knappheit an Unterbringungsressourcen und die damit verbundene Schwierigkeit für Dublin-Rückkehrer in Italien eine Unterkunft zu erhalten. [...]