LG Frankfurt a.M.

Merkliste
Zitieren als:
LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 21.04.2023 - 2-12 T 55/23 - asyl.net: M31462
https://www.asyl.net/rsdb/m31462
Leitsatz:

Kein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr gemäß § 2 Abs. 14 S. 2 Nr. 1 AufenthG bei unzureichenden Ermittlungen:

Ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr gemäß § 2 Abs. 14 S. 2 Nr. 1 AufenthG besteht dann, wenn die betroffene Person einen anderen EU-Mitgliedstaat vor Abschluss des dort laufenden Asylverfahrens verlassen hat. Dieser Fluchtgrund setzt voraus, dass geklärt wird, ob der Mitgliedstaat vor oder nach Abschluss des Asylverfahrens verlassen wurde. Der bloße Verweis darauf, dass der Mitgliedstaat einer Rückübernahme gemäß Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-III-VO zugestimmt hat, ist hierfür nicht ausreichend, da dieser auch Anwendung findet, wenn eine Person den Mitgliedstaat nach negativem Abschluss ihres Asylverfahrens verlässt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Überstellungshaft, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Dublin-Haft, Fluchtgefahr, Haftgrund, Weiterreise, Rückübernahme,
Normen: AufenthG § 2 Abs. 14 S. 2 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 28, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 2 Bst. n, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1 Bst. d
Auszüge:

[...]

Die Anordnung der Überstellungshaft durch den Beschluss des Amtsgerichts war rechtswidrig und hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der Überstellungshaft gemäß Art. 28 Abs. 2, Art. 2 lit. n) VO der Dublin III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14 S. 2 Nr. 1 AufenthG lagen nicht vor. Es bestand durch den Betroffenen keine Fluchtgefahr.

Gemäß § 2 Abs. 14 S. 2 Nr. 1 AufenthG kann ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vorliegen, wenn der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will. Dies war hier nicht der Fall.

Ausweislich des Bescheides vom 19.05.2022 hat die Niederlande ihre Zuständigkeit vorliegend gemäß Art. 18 Abs. 1 d Dublin-III VO erklärt. Art. 18 Abs. 1 d Dublin-III VO sieht eine Rücknahmepflicht auch dann vor, wenn der Antrag in dem anderen Mitgliedsstaat bereits abgelehnt wurde. [...]

Dagegen liegt nach § 2 Abs. 14 S. 2 Nr. 1 AufenthG ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vor, wenn der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will. Vorliegend lagen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Betroffene den Mitgliedstaat "vor" Abschluss des dort laufenden Verfahrens verlassen hat. [...]

Auch im Beschwerdeverfahren hat die antragstellende Behörde nicht weiter vorgetragen, ob nach dem EURODAC-Register das Verfahren in den Niederladen noch angedauert hat. Die Einholung einer solchen Auskunft - ggfs. durch Nachfrage beim BAMF - wäre von der antragstellenden Behörde im vorliegenden Fall jedoch erforderlich gewesen, weil der Bescheid vom 19.05.2022 konkrete Hinweise (Verweis auf Art. 18 Abs. 1 d Dublin-III VO) enthielt, dass das Verfahren möglicherweise bereits abgeschlossen war.

Zutreffend hat das Amtsgericht die Annahme einer Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG verneint. Auf die diesbezügliche Begründung wird Bezug genommen. Mangels Vorliegen eines Haftgrundes war der angeordnete Haft somit rechtswidrig und hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. [...]