Kein Abschiebungsverbot für russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit mit Kindern:
1. Für die Geltendmachung eines abgeleiteten Anspruchs nach § 26 Abs. 5 AsylG ist es notwendig, dass der stammberechtigten Person in der Bundesrepublik Deutschland und nicht in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde.
2. Selbst wenn die Klägerin ohne ihren Ehemann, der im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG ist, in die Russische Föderation zurückkehren würde, wäre sie in der Lage, ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu bestreiten.
3. Die Ausreiseaufforderung, die Abschiebungsandrohung und die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtswidrig. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hätte bei der Rückkehrentscheidung die familiären Bindungen und das Kindeswohl berücksichtigen müssen, da der Ehemann und Vater der Kinder einen gültigen Aufenthaltstitel für Deutschland besitzt.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329)
[... ]Die Kläger haben auch keinen abgeleiteten Anspruch nach § 26 Abs. 5, Abs. 1 AsylG (Klägerin zu 1. als Ehegattin) bzw. nach § 26 Abs. 5, Abs. 2 AsylG (Kläger zu 2. als minderjähriges lediges Kind) mit Blick darauf zu, dass dem Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. in der Republik Polen subsidiärer Schutz gewährt wurde. Denn § 26 Abs. 5 AsylG ist dahingehend auszulegen, dass er voraussetzt, dass dem Ehegatten bzw. Elternteil des minderjährigen ledigen Kinds in der Bundesrepublik Deutschland und nicht in einem anderen EU-Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt wurde.
Der Wortlaut des § 26 AsylG lässt eine Auslegung im Sinne der Kläger zwar zu. [...]
Gegen eine entsprechende Auslegung spricht jedoch, dass die von der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgehenden Rechtswirkungen nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) abschließend geregelt sind. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022, BVerwG 1 C 26.21 - juris, Rn. 12, BVerwG, Urteil vom 30. März 2021 - 1 C 41/20 - juris, Rn. 32). [...]
Das primäre Unionsrecht sieht eine Anerkennung positiver Asylentscheidungen nicht vor. Vielmehr bleibt die inhaltliche Prüfung der Voraussetzungen des Antrags auf internationalen Schutz Sache des Mitgliedstaates, bei dem dieser Antrag gestellt wurde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022, BVerwG 1 C 26.21 - juris, Rn. 17 ff.).
Zudem entspricht es auch der bisherigen bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass auch das Sekundärrecht der Union keine Regelung des verfahrensrechtlichen oder des materiellen Flüchtlingsrechts kennt, die ausdrücklich eine Bindung an die Zuerkennung internationalen Schutzes durch einen Mitgliedstaat für das Asylverfahren eines anderen Mitgliedstaates vorschreibt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022, BVerwG 1 C 26.21 - juris, Rn. 22).
Soweit das Bundesverwaltungsgericht mit vorbezeichnetem Beschluss vom 7. September 2022 das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung ersucht hat, ob in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) aussetzen würden, das einschlägige Sekundärrecht dahin auszulegen ist, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, vermögen die Kläger daraus keine für sie günstigen Schlüsse zu ziehen. [...]
Im Gegensatz dazu wurde den Klägern des hiesigen Verfahrens nicht in einem anderen EU-Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt, so dass die von dem Bundesverwaltungsgericht an den EuGH gestellten Fragen vorliegend nicht von Relevanz sind. Jedenfalls liegt eine Entscheidung des EuGHs, auf Grundlage der die Kläger insoweit für sich günstige Schlüsse ziehen können, nicht vor. [...]
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK liegen in der Person der Kläger nicht vor. [...]
Die Klägerin zu 1. wird selbst bei Annahme, dass ihr Ehemann, der im Besitz eines bis zum 29. August 2024 gültigen Aufenthaltstitels nach § 25b Abs. 1 AufenthG ist, nicht mit der Familie in die Russische Föderation zurückkehre würde, in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt und den des Klägers zu 2. und ihrer weiteren Kinder selbstständig zu bestreiten. Die Klägerin zu 1. hat neun Jahre lang die Schule besucht. Sie verfügt über eine Ausbildung und Arbeitserfahrung als Schneiderin. Gesundheitliche Einschränkungen, die die Arbeitsfähigkeit der Klägerin zu 1. ausnahmslos ausschließen würden, hat sie nicht substantiiert vorgetragen und solche sind auch nicht ersichtlich. Zudem ist es für die Klägerin zu 1. möglich, in der Russischen Föderation Arbeit zu finden. So existieren dort viele Erwerbsmöglichkeiten sogar für ungelernte Personen etwa im kaufmännischen Bereich (z. B. Verkäufer, Kurier, Wächter). Des Weiteren haben die Kläger Zugang zum russischen Gesundheitssystem und in diesem Rahmen das Recht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung. Die medizinische Versorgung ist in Russland auf einfachem, aber grundsätzlich ausreichendem Niveau gesichert. Darüber hinaus verfügen die Kläger in der Russischen Föderation über ein familiäres Netzwerk, so dass sie jedenfalls im Notfall auf die sozialadäquate und landestypische Unterstützung durch die nach wie vor in der Russischen Föderation lebenden Verwandten zu verweisen sind. Nach den Angaben der Klägerin zu 1. leben noch zwei Brüder, eine Schwester, drei Tanten und weitere entfernte Verwandte in ihrem Heimatland. Überdies kann die Klägerin zu 1. für den Kläger zu 2. und ihre weiteren Kinder in Russland Kindergeld beanspruchen. Außerdem gibt es in der Russischen Föderation zahlreiche Betreuungsmöglichkeiten sowohl für nicht schulpflichtige Kinder unter 6 Jahren als auch für schulpflichtige Kinder über 6 Jahre. Des Weiteren gibt es in der Russischen Föderation staatliche Wohnungszuteilungen und finanzielle Hilfen für Miet- und Nebenkosten. Eine andere Bewertung der Versorgungssituation in der Russischen Föderation ergibt sich auch nicht aus den wirtschaftlichen Folgen des seitens Russlands gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 geführten Angriffskrieges. [...]
Die auf § 59 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG beruhende Aufforderung zur freiwilligen Ausreise binnen 30 Tagen und die gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf die Russische Föderation als auch die Republik Polen erlassene Abschiebungsandrohung erweisen sich jedoch als rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]
Nach diesen Maßgaben hat das Bundesamt spätestens zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Rahmen der aus der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bestehenden Rückkehrentscheidung gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 GRC und Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie die familiären Bindungen der Kläger und gemäß Art. 24 Abs. 2 GRC und Art. 5 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie das Kindeswohl des Klägers zu 2. zu berücksichtigen. Konkret hätte das Bundesamt in seine Entscheidung den Umstand einbeziehen müssen, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. bzw. Vater des Klägers zu 2. im Besitz eines bis zum 29. August 2024 gültigen Aufenthaltstitels nach § 25b Abs. 1 AufenthG ist und damit über ein gesichertes Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügt. Es ist weder beklagtenseits vorgetragen noch für das Gericht ersichtlich, dass die Klägerin zu 1. und ihr Ehemann mittlerweile geschieden sind oder getrennt leben oder dass dem Vater des Klägers zu 2. zwischenzeitlich das Sorgerecht entzogen wurde.
Auch die Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Nummer 6 ist rechtswidrig, da es infolge der Rechtswidrigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung an den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 und 3 Satz 1 AufenthG fehlt. [...]