VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 20.09.2022 - 3 K 334/22 - asyl.net: M31442
https://www.asyl.net/rsdb/m31442
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinstehenden Mann aus dem Sudan:

1. Auch für einen alleinstehenden Mann im arbeitsfähigen Alter besteht im Sudan aufgrund der schlechten humanitären und wirtschaftlichen Lage die Gefahr, das Existenzminimum ohne familiäre Unterstützung nicht erlangen zu können.

2. Ob Familienangehörige Rückkehrende im Sudan unterstützen, hängt davon ab, ob dieses soziale Umfeld selbst wirtschaftlich stabil ist, ob das zurückkehrende Familienmitglied als Zugewinn betrachtet wird, ob das soziale Netzwerk eigene Erwerbschancen eröffnet und ob das aufgenommene Familienmitglied Ausschlussgründe begründet, wie ein als unehrenhaft wahrgenommenes Verhalten in der Vergangenheit.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Göttingen, Urteil vom 06.07.2023 - 3 A 190/19 - asyl.net: M31854)

Schlagwörter: Sudan, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, familiäre Unterstützung, Familie, soziales Netzwerk
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

46 Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. [...]

49 Dies in den Blick nehmend liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes mit Blick auf die humanitären Bedingungen in Sudan vor.

50 Die Kammer hat insoweit in ihrer Hinweisverfügung vom 30.08.2022 (vgl. S. 9-14, Bl. 43-48 der Gerichtsakte ) ausgeführt:

51 "Die Auffassung der Beklagten, es lägen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor, dürfte fallbezogen allerdings nicht zu folgen sein.

52 Es fällt schon auf, dass auf die "derzeitigen humanitären Bedingungen in Sudan" abgestellt wird, ohne diese näher zu erörtern.

53 Diese Bedingungen stellen sich für das Gericht nach der Erkenntnislage derzeit wie folgt dar: [...]

56 Gemessen an diesen tatsächlichen Umständen und angesichts der weiteren Verschlechterungen der Situation in der jüngeren Vergangenheit ist das Gericht der Auffassung, dass derzeit im Sudan so außergewöhnlich schlechte humanitäre Bedingungen vorliegen, dass ausnahmsweise auch ein erwachsener, alleinstehender, leistungsfähiger sudanesischer Mann ohne besondere individuell begünstigende Faktoren seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene nicht wird befriedigen können und daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. für Kläger ohne soziales Netzwerk auch VG Göttingen, Urteil vom 10.8.2021 - 3 A 486/17 -, juris; VG Stade, Urteil vom 25.5.2021 - 4 A 2640/17 -, juris; und wohl auch VG Lüneburg, Urteil vom 22.2.2021 - 6 A 7/20 -, juris und Urteil vom 10.6.2021 - 6 A 350/19 -, juris; a. A. aber wohl VG Braunschweig, Urteil vom 25.2.2021 - 3 A 261/20 - juris).

57 Demgegenüber können individuelle Faktoren wie besondere individuelle Fähigkeiten mit daraus resultierenden besseren Voraussetzungen für den sudanesischen Arbeitsmarkt oder ein schutz- und unterstützungsfähiges sowie -williges soziales Netzwerk nach Überzeugung des Gerichts im Regelfall eine Verletzung von Art. 3 EMRK verhindern.

58 Ein erwachsener, alleinstehender, leistungsfähiger sudanesischer Mann mit besonderen individuellen Fähigkeiten kann bessere Voraussetzungen für den Arbeitsmarkt mitbringen und damit gegebenenfalls das individuelle Existenzminimum aus eigener Kraft sichern. Ein höherer Bildungsstandard ist dabei nicht generell ein begünstigender Faktor, da auch die Männer mit höherer Bildung für gewöhnlich auf Erwerbsmöglichkeiten für Ungelernte angewiesen sind. Vielmehr zählen zu den stärkenden Faktoren eine handwerkliche Spezialisierung, Spezialberufe allgemeinen Interesses, technologische Erfahrungen, internationale Erfahrungen und Beziehungen, politische Beziehungen und ein Startkapital [...]. Einem erwachsenen, alleinstehenden, leistungsfähigen sudanesischen Mann mit einem schutz- und unterstützungsfähigen sowie -willigen sozialen Netzwerk wird im Regelfall keine Verletzung von Art. 3 EMRK drohen [...].

59 Zu einer Existenzabsicherung führen diese sozialen Netzwerke im Sudan jedoch nur unter vier Voraussetzungen:

60 1. Das soziale Umfeld muss selbst wirtschaftlich stabil sein, ob über interne akkumulative Verteilungsstrukturen (Solidarität) oder über die Existenz finanzstarker Mitglieder, die ihre Ressourcen zur Verfügung stellen (Patronage).

61 2. Das aufgenommene Mitglied muss als Zugewinn betrachtet werden, entweder allein aus der Zugehörigkeit heraus ("einer von uns") oder mit konkreten Ressourcen ("der bringt uns").

62 3. Das soziale Netzwerk muss eigene Erwerbschancen eröffnen, zum Beispiel über privilegierten Zugang zu Teilen des Arbeitsmarkts (Vermittlung oder Nepotismus) oder durch Beteiligung an im Netzwerk vorhandenen wirtschaftlichen Tätigkeiten (Betriebe, Handel etc.).

63 4. Das aufgenommene Mitglied darf keine Ausschlussgründe mitbringen, z.B. Blutschuld, unehrenhaftes oder kriminelles Verhalten, unerwünschte politische Zugehörigkeit, als Aberration wahrgenommene sexuelle Orientierung usw. (Ille, Gutachten zu den allgemeinen Lebensbedingungen im Sudan, 31.10.2021, S. 51, 59)." [...]