VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 27.03.2023 - A 19 K 391/23 - asyl.net: M31436
https://www.asyl.net/rsdb/m31436
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheid wegen eventuell drohender Inhaftierung in Litauen:

1. Ob Personen, die gemäß der Dublin-III-Verordnung aus Deutschland nach Litauen überstellt werden, dort eine rechtswidrige Freiheitsentziehung droht, ist eine offene Tatsachenfrage, die im Hauptsacheverfahren zu untersuchen ist. Dort ist ebenfalls zu prüfen, ob eine drohende Inhaftierung ohne Einzelfallprüfung einen systemischen Mangel darstellt und die Pflicht zum Selbsteintritt der Beklagten begründet oder die betroffene Person darauf zu verweisen ist, in Litauen um Rechtsschutz gegen die Inhaftierung nachzusuchen.

2. Ob und in welchen Fallgestaltungen systemische Mängel in Litauen bestehen, wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte derzeit uneinheitlich bewertet.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 30.06.2022 - C-72/22 PPU M.A. gg. Litauen - asyl.net: M30839; VG Potsdam, Gerichtsbescheid vom 21.12.2022 - 11 K 2074/22.A - asyl.net: M31264; siehe auch: VG Saarland, Beschluss vom 29.12.2022 - 5 L 1059/22 - asyl.net: M31244)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Litauen, Inhaftierung, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, Freiheit der Person,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, RL 2013/33/EU Art. 8, GR-Charta Art. 6
Auszüge:

[...]

21 b) Nach diesen Maßstäben bedarf die Frage, ob die Vermutung, dass die von den litauischen Behörden zu erwartende Behandlung der Antragstellerin den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entsprechen wird, widerlegt sein könnte, weil systemische Schwachstellen des Asylverfahrens in Litauen, die eine Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung für die Antragstellerin bedeuten, vorliegen, weiterer Aufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben und führt vorliegend zum Erfolg des Eilantrags.

22 aa) Ob und in welchen Fallgestaltungen systemische Mängel in dem genannten Sinne in Litauen gegenwärtig (fort-)bestehen, wird in der erstinstanzlichen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte derzeit uneinheitlich bewertet (vgl. aus der veröffentlichten Rechtsprechung bejahend etwa VG Potsdam, Gerichtsbescheid vom 21.12.2022 – 11 K 2074/22.A – juris; VG Hannover, Beschluss vom 25.08.2022 – 12 B 6475/21 –; VG Magdeburg, Beschluss vom 05.09.2022 – 3 B 262/22 MD –; VG Karlsruhe, Beschluss vom 12.10.2022 – A 1 K 2819/22 – n.v; VG Chemnitz, Beschluss vom 24.10.2022 – 1 L 352/22.A –; verneinend demgegenüber etwa VG Freiburg, Urteil vom 17.01.2023 – A 13 K 1760/22 – juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 26.08.2022 – 29 L 1620/22.A –; VG Münster, Beschluss vom 12.09.2022 – 2 L 694/22.A –; VG Greifswald, Beschluss vom 27.10.2022 – 6 B 1625/22 HGW –; VG Düsseldorf, Beschluss vom 14.11.2022 - 22 L 2107/22.A -, jeweils juris und m.w.N.; tendenziell auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.03.2023 – 11 A 298/23.A – juris: "zumindest naheliegend"). [...]

28 (2) Indes ist es derzeit eine offene Tatsachenfrage, ob Personen, die nach der Dublin III-VO rücküberstellt werden, eine rechtswidrige Freiheitsentziehung droht. [...]

33 3. a) Vor diesem Hintergrund bedarf es weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren, ob regulär in Vollziehung einer unter Anwendung der Regelungen der Dublin III-Verordnung erlassenen Abschiebungsanordnung nach Litauen rücküberstellte Asylantragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, dass gegen sie routinemäßig eine "alternative Maßnahme zur Inhaftierung", die sich aufgrund des Entzugs der Bewegungsfreiheit bezogen auf das Verlassen eines Unterbringungszentrums eine Inhaftierung im Sinne der Richtlinie 2013/33/EU sein dürfte (vgl. EuGH, Urteil vom 30.06.2022 – C-72/22 PPU – InfAuslR 2022, 405 Rn. 38 ff. <M.A.>), angeordnet wird. Darauf könnte die von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wiedergegebene Auskunft des Litauischen Roten Kreuzes hindeuten, ohne dass diese mit den Angaben der Litauischen Regierung gegenüber dem UN-Anti-Folter-Komitee in Widerspruch stehen müsste, abhängig davon, welche Unterbringungsform als Haft oder haftähnlich angesehen wird. Beide Angaben können damit auch im Einklang mit den Erläuterungen von amnesty international stehen. Inwieweit es sich auf die Unterbringung von Asylantragstellern auswirkt, dass zwischenzeitlich der Ausnahmezustand nur auf die Grenzregion zu Belarus und Russland beschränkt ist (siehe zur Verlängerung der Entscheidung bis zum 02.05.2023: LRT, Lithuania extends state of emergency in border areas, Meldung vom 14.03.2023), wird ebenfalls zu ermitteln sein.

34 b) Ebenso dem Hauptsacheverfahren muss es vorbehalten bleiben, zu klären, wie es sich rechtlich auswirkt, sollte dem Antragsteller tatsächlich eine Inhaftierung im Sinne des Art. 8 RL 2013/33/EU drohen, ohne dass dessen Vorgaben tatsächlich und einzelfallbezogen geprüft würden. Dies führte dann zwar wahrscheinlich zu einer Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 6 GRCh, nach den obigen Ausführungen zur Unterbringungssituation derzeit wohl nicht zu einer Verletzung im seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh. Ob der Antragsteller eine solche Rechtsverletzung innerhalb des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zunächst hinnehmen – und gegebenenfalls in Litauen Rechtsschutz nachsuchen muss – oder ob eine tatsächliche Gefahr der Verletzung seiner unionsrechtlich garantierten Freiheitsrechte der Zuständigkeit Litauens im Rahmen der Wiederaufnahme entgegensteht oder eine Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts mit sich bringt, müsste, sollte sich diese Gefahr nach Aufklärung der tatsächlichen Umstände als tatsächlich bestehend herausstellen, im Hauptsacheverfahren entschieden werden. [...]