Abschiebungsverbot für alleinerziehende, kurdische Frau aus der Türkei:
1. Die Verfolgung einer Frau, die sich einer Zwangsehe entzogen und anderweitig geheiratet hat, knüpft nicht an einen Verfolgungsgrund gemäß § 3b Abs. 1 AsylG an, insbesondere handelt es sich nicht um Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Der Betroffenen ist auch nicht der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen, da ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG nicht hinreichend wahrscheinlich ist.
2. Es besteht ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs.5 AufenthG für die inzwischen alleinstehende Klägerin und ihr Kind, das von ihrem Mann nicht anerkannt wurde und daher als nicht ehelich gilt, denn angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage der Türkei und der Situation kurdischer Frauen auf dem Arbeitsmarkt besteht in diesem Einzelfall die Gefahr, dass sie als alleinstehende Mutter eines dreijährigen Kindes ohne berufliche Qualifikation und Erfahrung und ohne Unterstützung durch ihre Familie in eine Situation extremer materieller Not geraten würde.
(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich LS.1: VG Berlin, Urteil vom 17.08.2022 - 31 K 305/20 A (Asylmagazin 3/2023, S. 70 ff.) - asyl.net: M31230)
Siehe auch:
[...]
Der Umstand, dass die Klägerin zu 1) in der Türkei zwangsverheiratet werden sollte, stellt jedenfalls deshalb keine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU dar, weil es schon an einem kausalen zeitlichen Zusammenhang zwischen einer Verfolgungshandlung und der Ausreise der Klägerin zu 1) fehlt. [...]
Auch die mehrjährigen Bedrohungen und der psychische Druck durch die Schwiegereltern - teilweise unter Anwendung physischer Gewalt - vor ihrer Ausreise stellen keine Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU dar. Zwar ist insoweit ein zeitlicher und kausaler Zusammenhang zur Ausreise gegeben. Die genannte Verfolgung der Klägerin zu 1) knüpft aber nicht an ein Verfolgungsmerkmal im Sinne des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU an, insbesondere nicht an die Zugehörigkeit der Klägerin zu 1) zu einer bestimmten sozialen Gruppe [...]. Frauen, welche sich einer von ihrer Familie arrangierten Zwangsheirat widersetzt haben, haben vorbehaltlich besonderer Umstände des konkreten Einzelfalles keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil sie keiner bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU - welcher mit § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG insoweit identisch ist - angehören. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn diese Frauen in der Türkei nach ihrer Eheschließung von ihren Familienangehörigen über Jahre hinweg (weiterhin) systematisch bedroht und Opfer von Gewalttaten werden [...].
Die Eigenschaft als Frau führt nach Auffassung der Berichterstatterin nicht dazu, dass eine Person von der türkischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird und insoweit einer Gruppe mit abgrenzbarer Identität angehört. Frauen, die auch in der Türkei einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen, werden dort nicht als "gesellschaftlicher Fremdkörper" (vgl. Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 3b AsylG Rn. 2) eingestuft. Dass Frauen, die Opfer von familiärer Gewalt wurden, als abgrenzbare Gruppe anzusehen sind, kann die Berichterstatterin daher nicht feststellen (so auch VG Karlsruhe, Urt. v. 19.07.2019, A 10 K 15283/17, juris Rn. 27). [...]
Selbst wenn man das Vorliegen der Anforderungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b) AsylG für eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG nicht für erforderlich halten sollte, ist für die Annahme einer an das Geschlecht anknüpfenden Verfolgung in den Fällen häuslicher Gewalt oder, wie hier, in Fällen von Zwangsverheiratungen bzw. Anwendung von Gewalt nach der Widersetzung, dennoch erforderlich, dass die Art und Weise der Gewaltausübung spezifisch auf den "Genderstatus" der Frau gerichtet ist und der staatliche Schutz systematisch wegen dieser "Genderfaktoren" versagt wird. Der entscheidende Umstand, der von häuslicher Gewalt betroffene Frauen von den Frauen innerhalb einer Gesellschaft insgesamt abgrenzt, ist die evidente Tatsache institutionalisierter Diskriminierung von Frauen durch Polizei, Gerichte und das gesamte Rechtssystem eines Staates [...].
aa. Die zu erwartende erneute Verfolgung der Klägerin zu 1) und ihres Sohnes, dem Kläger zu 2), durch den "geschmähten" Cousin und ggf. dessen Vater knüpft an kein Verfolgungsmerkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG an, insbesondere nicht an die Zugehörigkeit der Klägerin zu 1) zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die obigen Ausführungen gelten an dieser Stelle entsprechend. [...]
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. [...]
Gemessen an diesen Grundsätzen droht den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Die Klägerin zu 1) hat zwar überzeugend vorgetragen, dass sie über Jahre hinweg von dem "geschmähten" Cousin und dessen Vater bedroht und belästigt worden sei sowie dass ihre Schwiegereltern sie einem erheblichen psychischen und physischen Druck ausgesetzt hätten. Die zuletzt genannte Gefahr - unabhängig von der Bewertung der einzelnen Handlungen der Schwiegereltern als erniedrigende oder unmenschliche Behandlung - dürfte sich mit dem Auszug und der Ausreise der Klägerin zu 1) bereits erledigt haben. Es sind auch keine Anhaltspunkte vorgetragen worden oder anderweitig ersichtlich, dass die Schwiegereltern die Kläger aktuell noch verfolgen oder belästigen. [...]
3. Die Kläger haben jedenfalls einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. [...]
c. Angesichts dieses Lagebildes geht die Berichterstatterin davon aus, dass türkischen Staatsbürgern in der Türkei trotz der aktuell angespannten wirtschaftlichen Situation, die insbesondere von einer starken Inflation geprägt ist, nur in absoluten Ausnahmefällen eine Verelendung droht. Im Fall der Kläger liegt ein solcher absoluter Ausnahmefall vor. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei würden die Kläger in eine Situation extremer materieller Not geraten. [...]
Zwar wäre die Klägerin zu 1) nicht aufgrund der Bedrohungen durch ihren Onkel und dessen Sohn zu einem Leben unter Vermeidung jeder Öffentlichkeit gezwungen, welches ihr kaum ermöglichen würde, ihre existentiellen Bedürfnisse und diejenigen ihres dreijährigen Sohnes zu befriedigen. Diesbezüglich wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Auch die Erdbebensituation im Heimatort der Klägerin zu 1) für sich genommen führt zu keinen erheblichen Auswirkungen auf die existenzielle Lage der Kläger im Falle ihrer Rückkehr. [...]
Die Klägerin zu 1) hat jedoch ausführlich und überzeugend die patriarchale Struktur und die in erheblichem Maße misogyne Einstellung ihrer Familie geschildert, die vor dem Hintergrund der Erkenntnislage [...] auch glaubhaft erscheint. [...] Ein selbstbestimmtes Leben hatte die Klägerin zu 1) daher zu keinem Zeitpunkt geführt. Vielmehr war sie nach der Heirat von der finanziellen Unterstützung durch ihren Ehemann abhängig, während sie selbst keine Beschäftigung ausgeführt hatte. [...] Infolge der Trennung von ihrem Ehemann vor mehr als drei Jahren und dem seitdem bestehenden Kontaktabbruch ist nicht davon auszugehen, dass er die Klägerin zu 1) und ihr gemeinsames Kind (finanziell) unterstützen wird. Daher ist es der Klägerin zu 1) nicht zuzumuten, im Falle einer Rückkehr sich im Westen der Türkei niederzulassen. Die Klägerin zu 1) wird mit ihrem minderjährigen Kind allein keine realistische Chance besitzen, in eine der genannten Großstädte oder deren näheres Umland zurückzukehren. Insbesondere ist für die Berichterstatterin nicht erkennbar, dass sie in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr in die Türkei ohne jegliche anderweitige Unterstützung eine existenzsichernde Grundlage zu schaffen. [...]
Eine Unterstützungsbereitschaft der in der Türkei lebenden Familienangehörigen der Klägerin zu 1) ist nicht beachtlich wahrscheinlich, weil das Verhältnis nach den nachvollziehbaren Angaben der Klägerin zu 1) infolge ihrer Widersetzung gegen die Zwangsverheiratung und infolge der Heirat eines Mannes ihrer Wahl nachhaltig zerrüttet ist. So hat sie seit ihrer Ausreise keinen Kontakt mehr zu ihrer Kernfamilie gehabt. Ohne verwandtschaftliche Unterstützung aber erscheint es für die Klägerin zu 1) als alleinstehende Frau ohne berufliche Qualifikation und mit einem minderjährigen Kind, das besonderer Fürsorge bedarf, praktisch ausgeschlossen, sich im Westen des Landes eine eigenständige Existenz aufzubauen. Erschwerend hinzu tritt die schwierige Situation von kurdischen Frauen auf dem türkischen Arbeitsmarkt. Diese stellt sich im Falle der Klägerin zu 1) sogar noch problematischer dar, weil sie zusätzlich für ihren dreijährigen Sohn zu sorgen hätte. [...]