VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 19.01.2023 - A 4 K 1443/21 - asyl.net: M31417
https://www.asyl.net/rsdb/m31417
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für nigerianische Staatsangehörige wegen drohender FGM:

1. Weibliche Genitalverstümmelung [Female Genitale Mutilation; FGM] ist in Nigeria nach wie vor weit verbreitet. Es gibt regionale Unterschiede, und die Beschneidungspraxis und -prävalenz variiert nach Bevölkerungsgruppen. Das Risiko, Opfer von FGM zu werden, ist um ein Vielfaches höher, wenn die eigene Mutter Opfer von FGM geworden ist. 

2. Die Entscheidung für FGM kann von einem Elternteil, beiden Eltern, aber auch den Großeltern oder dem Familienvorstand getroffen werden. Vereinzelt erfolgt die Genitalverstümmelung auch gegen den Willen der Eltern allein auf Initiative der Großeltern. Häufig dürfte jedoch der Druck der Großfamilie bzw. der Dorfgemeinschaft und der drohende Ausschluss aus dem Familienverband maßgeblich dafür sein, dass sich Eltern der grausamen Tradition beugen und eine Genitalverstümmelung ihrer Töchter zulassen. Die Entscheidung scheint keine individuelle Entscheidung der Eltern zu sein, sondern eine der (familiären) Gemeinschaft.

3. Angesichts der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen kann es mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, sich an einem Ort niederzulassen, in dem kein Mitglied ihrer Familie, der erweiterten Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft lebt.

4. Die Angaben der Eltern der Klägerin lassen vor diesem Hintergrund nicht den Schluss zu, dass sie bereit und in der Lage wären, sich dem Druck der (familiären) Gemeinschaft, ihre Tochter beschneiden zu lassen, zu widersetzen oder sich an einem anderen Ort Nigerias niederzulassen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen. Hierzu fehlt am auf innerer Überzeugung beruhenden Willen, die Genitalverstümmelung ihrer Tochter auch unter diesen Umständen verhindern zu wollen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Sigmaringen, Urteil vom 29.06.2020 - A 9 K 4048/18 - asyl.net: M29119)

Schlagwörter: Nigeria, Genitalverstümmelung, Female Genital Mutilation, FGM, geschlechtsspezifische Verfolgung, Edo, Edo State, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Strafbarkeit,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Diese Voraussetzungen liegen vor. Der Klägerin droht in Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine merkmalbezogene Verfolgung.

Die ihr drohende Verstümmelung der weiblichen Genitalien (female genitale mutilation = FGM) stellt eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dar, denn eine solche liegt gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 b AsylG auch vor, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Die weibliche Genitalverstümmelung ist jedenfalls als extreme physische Gewalt von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG umfasst Sie droht der Klägerin durch ihre Großfamilie und mittelbar durch die eigenen Eltern, die in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck vermitteln konnten, dass sie ihre Tochter wirksam vor einer Genitalverstümmelung, die in den jeweiligen Familien Tradition ist, schützen können. Die Familien sind als Privatpersonen Verfolgungsakteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG; der nigerianische Staat ist nicht in der Lage, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Im Einzelnen:

Zwar ist die weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria unter Strafe gestellt. Ein Bundesgesetz kriminalisiert seit 2015 weibliche Genitalverstümmelung auf nationaler Ebene. Allerdings haben nur wenige Bundesstaaten tatsächlich Gesetze zum Verbot von FGM verabschiedet. Entsprechende Gesetze werden kaum vollzogen. In manchen Fällen wurden Geldstrafen verhängt, Gefängnisstrafen gab es nicht. Zwar gibt es Aufklärungskampagnen und eine nationale Strategie zur Bekämpfung von FGM, doch liegen kaum Berichte vor, wonach die Regierung aktiv dagegen vorgeht [...].

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria nach wie vor weit verbreitet. Die Zahl der statistisch erfassten Beschneidungsopfer beträgt landesweit zwischen 13 und 20 Prozent [...]. Allerdings bestehen starke regionale Unterschiede [...]. Für den im Süden Nigerias belegenen Bundesstaat Edo State, aus dem die Eltern der Klägerin stammen bzw. zuletzt gewohnt haben, werden Häufigkeiten von 29,5 Prozent [...], 35,5 Prozent [...] und 26-50 Prozent [...] beschnittener Mädchen und Frauen genannt. Die Beschneidungspraxis variiert zudem stark zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen: Bei der Gruppe der Edo, der die Mutter der Klägerin angehört, lassen sich Prävalenzangaben von 32,6 Prozent [...] bis 69-77 Prozent [...] finden. Vor diesem Hintergrund wirkt der Vermerk des Bundesamts vom 20.04.2021 befremdlich, "es sei bereits fraglich, ob die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung überhaupt noch durchgeführt" werde, die Angehörigen der Volksgruppe der Edo sähen "die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung übereinstimmend als überkommender und bereits seit vielen Jahren als entgegenstehenden [sic!] Brauch" an. Bei den Esan, der Bevölkerungsgruppe des Vaters der Klägerin, sollen 51 % der Mädchen und Frauen beschnitten sein [...]. Dabei dürften die Betroffenen, die an einer Genitalverstümmelung versterben [...], von den Statistiken nur teilweise erfasst sein, weshalb unter Berücksichtigung der Dunkelziffer von noch höheren Prozentzahlen an Betroffenen auszugehen ist [...]

Zu der Frage, ob es Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gegenden gibt, existieren widersprüchliche Erkenntnisquellen [...]. Während die Anzahl der beschnittenen Mädchen mit dem Wohlstand der Familie tendenziell steigt [...], scheint der Bildungsstand der Eltern kaum Einfluss zu haben [...]. Erhebliche Bedeutung kommt nach der Auskunftslage hingegen dem Umstand zu, ob die eigene Mutter beschnitten ist oder nicht: Nach Erhebungen in den Jahren 2013 und 2018 betrug die FGM-Prävalenz einerseits 47,4 bzw. 55,9 Prozent, andererseits 8,0 bzw. 16,6 Prozent [...]. Das Risiko, selbst Opfer einer weiblichen Genitalverstommelung zu werden, ist mithin um ein Vielfaches größer, wenn die eigene Mutter - und deren Mutter- beschnitten ist [...]

Von wem und wie die Entscheidung für eine FGM getroffen wird, wird in den Erkenntnisquellen unterschiedlich beurteilt und lässt sich pauschal nicht feststellen. Es gibt Unterschiede sowohl zwischen verschiedenen Familien als auch zwischen den Bevölkerungsgruppen. Die Entscheidung kann von einem Elternteil (dann in der Regel dem Vater), beiden Eltern, aber auch von den Großeltern oder dem Familienvorstand getroffen werden [...]. Vereinzelt erfolgt die Genitalverstümmelungen auch gegen den Willen der Eltern allein auf Initiative der Großeltern [...]. Häufig dürfte jedoch der Druck der Großfamilie bzw. der Dorfgemeinschaft und der drohende Ausschluss aus dem Familienverband maßgeblich dafür sein, dass sich Eltern der grausamen Tradition beugen und eine Genitalverstümmelung ihrer Töchter zulassen [...]. Insgesamt scheint die Beschneidung keine individuelle Entscheidung der Eltern, sondern der (familiären) Gemeinschaft zu sein, zu der Eltern, Großeltern, Älteste, Tanten und das soziale Umfeld beitragen. Dieses Verständnis würde erklären, warum die FGM-Prävalenz mit zunehmendem Bildungsstand nicht signifikant abnimmt und häufig auch Frauen, die prinzipiell dagegen sind, eine Beschneidung zulassen [...].

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse und der Angaben der Eltern der Klägerin im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung ist der Berichterstatter davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria eine Genitalverstümmelung droht. Aufgrund der Herkunft und der Volkszugehörigkeit ihrer Eltern, der von ihrer Mutter erlittenen Genitalverstümmelung und den insoweit glaubhaften Angaben ihrer Eltern, dass in beiden Großfamilien FGM praktiziert wird, ergibt sich bereits statistisch, dass die Klägerin in Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer einer Beschneidung werden wird. Es kann auch nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden, dass ihre Eltern sie hiervor erfolgreich schützen werden.

Zunächst ist im Rahmen einer realistischen Rückkehrprognose davon auszugehen, dass sich die Eltern der Klägerin zusammen mit ihren Kindern in Nigeria wieder in den Kreis ihrer Großfamilien begeben werden. Denn beide Eltern besitzen in Nigeria mehrere Verwandte, ein Bruch mit ihren Familien war nicht festzustellen. [...]. Es kann mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Personen an einen Ort begeben, in dem keine Mitglieder ihrer Familie bzw. erweiterten Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft leben. Angesichts der anhaltend schwierigen Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria, 24.11.2022, S. 14).

Die Angaben der Eltern der Klägerin lassen nicht den Schluss zu, dass sie bereit und in der Lage wären, sich dem Druck der (familiären) Gemeinschaft, an der Klägerin eine Beschneidung durchzuführen bzw. durchführen zu lassen, zu widersetzen, oder sich zum Schutz ihrer Tochter an einem anderen Ort Nigerias niederlassen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Kauf nehmen würden. [...]

Vor diesem Hintergrund ist zumindest beachtlich wahrscheinlich, dass die Eltern der Klägerin in Nigeria in den Kreis der Großfamilien zurückkehren und jedenfalls nicht verhindern würden, dass bei der Klägerin eine FGM durchgeführt wird. [...]