Flüchtlingsanerkennung für eine Frau aus der Türkei wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung:
1. Bei geschlechtsspezifischer Verfolgung ist nicht erforderlich, dass die Gruppe der Frauen als soziale Gruppe gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG eine deutlich abgegrenzte Identität aufweist. Für die Annahme einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nach der Sonderregelung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz reicht es aus, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft.
2. Bei einer Frau, die sich einer Zwangsheirat entzogen hat, ist zwar nicht davon auszugehen, dass ihr Vater sie in der gesamten Türkei finden wird. Allerdings wird es ihr aufgrund ihrer persönlichen Situation (lediglich dreijähriger Schulbesuch, fehlende Eigenständigkeit) nicht möglich sein, ohne ihre Familie, von der die Bedrohung ausgeht, ihren Lebensunterhalt in der Türkei zu bestreiten. Interner Schutz gemäß § 3e Abs. 1 AsylG ist für die Klägerin deshalb nicht zu erlangen.
(Leitsätze der Redaktion)
Siehe auch:
[...]
Nach der Überzeugung des Gerichts knüpft die der Klägerin drohende Verfolgung an ihr Geschlecht als Frau an, sodass es sich um eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG handelt. [...]
In Folge der besonderen Stellung, die die geschlechtsspezifische Verfolgung damit in § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG erhalten hat, ist nicht erforderlich, dass die Gruppe der Frauen gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b) AsylG in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Mit dem letzten Halbsatz hat der Gesetzgeber für allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpfende Verfolgung eine Sonderregelung gegenüber den zuvor aufgestellten Anforderungen an bestimmte soziale Gruppen im Übrigen geschaffen. Bereits der Wortlaut "insbesondere" vor den Merkmalen in § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) und b) AsylG deutet darauf hin, dass eine kumulative Erfüllung beider Merkmale nicht stets zwingende Voraussetzung für die Annahme einer bestimmten sozialen Gruppe sein muss. Für die im letzten Halbsatz gesondert genannte Verfolgung aufgrund des Geschlechts und der geschlechtlichen Identität, die angeborene Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) AsylG sind, ist dies nicht der Fall. Verfolgungshandlungen, die an das Geschlecht anknüpfen, treffen bei Männern oder Frauen jeweils etwa die Hälfte der Bevölkerung eines Landes. Die sie umgebende Gesellschaft, die sie als andersartig betrachten könnte, kann deshalb (unter Außerachtlassung etwaiger weiterer Geschlechter) ebenfalls stets nur etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Das Merkmal des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b) AsylG würde demnach nie oder zumindest kaum erfüllt werden, was dem Sinn und Zweck des § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG, eine Verfolgung allein wegen des Geschlechts mit zu erfassen, widersprechen würde. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG setzt insofern die Konstitution der bestimmten sozialen Gruppe durch das Geschlecht unabhängig von den Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) und b) AsylG fest. [...]
Es ist entgegen der Annahme der Klägerin nicht davon auszugehen, dass ihr Vater, der ihren eigenen Angaben nach ... ist, sie tatsächlich in der gesamten Türkei finden den würde. Die Klägerin ist aber nach der insbesondere durch die persönliche Anhörung gewonnen Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage, sich unter Zuhilfenahme der geringen, aber vorhandenen staatlichen und nichtstaatlichen Unterstützungsmöglichkeiten an einem anderen Ort in der Türkei soweit ein Leben aufzubauen, dass ihr Existenzminimum gesichert wäre. Sie wäre vielmehr im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei aller Voraussicht nach innerhalb kürzester Zeit gezwungen, ihre Verwandten, von denen die Bedrohung ausgeht, um materielle und/oder sonstige Unterstützung zu bitten, um ihren Lebensunterhalt sicherstellen zu können. Die Klägerin ist lediglich drei Jahre lang zur Schule gegangen und kann ihren eigenen Angaben zufolge zwar etwas lesen und schreiben, aber nicht gut. Auch hat sie etwa fünf Jahre lang in einer ... gearbeitet. Sie hat dies aber aus der (damals noch relativ sicheren) Umgebung ihrer Familie heraus getan. Ein eigenständiges Leben hat die bereits 37-jährige Klägerin nie geführt und auch nie für sich in Betracht gezogen. Auch in Italien, wo sie sich die ersten zwei Jahre nach ihrer Flucht bei ihrer Cousine und deren Freundin aufgehalten hat, konnte sie nicht einmal versuchen, sich außerhalb der jeweiligen Haushalte zu bewegen. In Deutschland wird sie von ihrer Schwester unterstützt und ist mittlerweile in der Lage, in dem geschützten Rahmen eines türkischen Restaurants zwei Stunden täglich Getränke zu servieren. Ähnliche sichere Unterstützungsmechanismen wird sie in der Türkei nicht erhalten können. Sozialhilfe im deutschen Sinne gibt es in der Türkei nicht. Soweit es Programme für mittellose Familien gibt, können diese die in der Türkei übliche Unterstützung durch den Familienverband nur ergänzen, aber nicht ersetzen (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation: Türkei, 22.09.2022, S. 200-201). [...]