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VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 10.11.2021 - 5 A 4802/17 - asyl.net: M31412
https://www.asyl.net/rsdb/m31412
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Frau aus der Türkei wegen drohender Zwangsverheiratung:

1. Frauen, die gegen traditionelle Moral- und Wertvorstellungen von Familien in der Osttürkei verstoßen oder sich diesen widersetzen, können eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden. Entsprechende Verfolgungshandlungen sind aufgrund familiärer, kultureller und sozialer Bedingungen in der Herkunftsregion auf den sozialen "Gender-Status" betroffener Frauen gerichtet und zielen auf die identitätsprägenden Merkmale ab, Partner*innen selbst zu wählen und eine selbstbestimmte sexuelle Identität zu leben.

2. Frauen können sich wegen Bedrohungen in familiären Konflikten in der Türkei zwar grundsätzlich an qualifizierte Einrichtungen des türkischen Staats wenden und so Schutz gemäß § 3d Abs. 1 AsylG in Anspruch nehmen. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Frauen, die wie die Klägerin keine ausreichende Schulbildung haben, sich im vorhandenen System nicht auskennen und kein Vertrauen zu ihm haben, diese Schutzmöglichkeit in Anspruch nehmen.

3. Die Betroffene kann auch keinen internen Schutz gemäß § 3e AsylG in einer anderen Region der Türkei erlangen, da ihre Großfamilie über das Land verstreut lebt, miteinander Kontakt pflegt und beachtlich wahrscheinlich in der Lage wäre, die Klägerin ausfindig zu machen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.3.2023 - 10 A 35/23 - asyl.net: M31413; anderer Ansicht: VG Hamburg, Urteil vom 02.03.2023 - 1 A 3289/21 - asyl.net: M31419)

Schlagwörter: Türkei, Frauen, Kurden, Zwangsehe, geschlechtsspezifische Verfolgung, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3d Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin droht nach ihrem individuellen Vortrag mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei.

Frauen, die gegen die Moralvorstellungen / den Ehrenkodex und die traditionellen Wertvorstellungen der Familien aus der Herkunftsregion verstoßen, könne eine besondere soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG bilden. Insbesondere aufgrund der familiären, kulturellen und sozialen Bedingungen in der Heimatregion sind Ehrenmorde auf den sozialen "Gender-Status" der betroffenen Frauen gerichtet. Die Verfolgungshandlung zielt auf das identitätsprägende Merkmal der Frau, die ihr Recht auf freie Wahl des eigenen Partners oder auf selbstbestimmte sexuelle Identität wahrnimmt, ab (VG Chemnitz, Urteil vom 20. Dezember 2016 - 4 K 2612/14.A -, juris S. 14; VG Schleswig, Urteil vom 18. Dezember 2014 - 8 A 36/13 -, juris S. 7; VG Stade, Urteil vom 24. Januar 2013 - 4 A 851/11 -, juris S. 9; wohl a.A. VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2019 - A 10 K 15283/17 -, juris Rn. 27). [...]

Die Klägerin hat substantiiert, in sich stimmig, ohne Widerspruch zu ihren bisherigen Angaben im Asylverfahren und damit letztlich glaubhaft dargelegt, dass sie in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zukünftig dazu gedrängt werden wird, zwangsweise eine Ehe einzugehen, und ihr bei einem Widersetzen Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG drohen. Insoweit zielen die künftig erwartbaren Verfolgungshandlungen auf ihr identitätsprägendes Merkmal der freien Wahl eines eigenen Partners oder auf ihre selbstbestimmte sexuelle Identität ab. [...]

Die Klägerin ist auch nicht darauf zu verweisen, Schutz vor der Verfolgung durch ihre Familienmitglieder beim türkischen Staat zu suchen.

Wie den vorstehenden Erkenntnissen zu entnehmen ist, gibt es zwar Möglichkeiten für Frauen, die sich im Zusammenhang mit familiären Konflikten bedroht fühlen und um ihr Leben fürchten, sich an verschiedene türkische Einrichtungen zu wenden und Schutz in Anspruch zu nehmen. Ob diese Voraussetzungen auch im Einzelfall hinreichend wirksam sind, hängt u.a. bereits davon ab, inwieweit die von familiärer Gewalt bedrohte Frau in der Lage ist, die theoretisch gegebenen Möglichkeiten zu nutzen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gruppe der gut ausgebildeten und gut vernetzten Frauen in der Lage ist, die gegebenen Schutzmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Das gilt jedoch nicht für die Gruppe der Frauen ohne ausreichende Schulbildung, die wenig Türkisch spricht, sich im vorhandenen System nicht auskennt und diesem gegenüber kein Vertrauen hat (vgl. nur VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2019 - A 10 K 15283/17 -, juris Rn. 49 m.w.N.).

Vorliegend dürfte es der Klägerin, die keine Ausbildung genossen hat, lediglich die Grundschule besuchte und dann im elterlichen Haushalt und der Landwirtschaft geholfen habe, also keinen nennenswerten Kontakt zu den türkischen Behörden hatte, bereits schwerfallen, die Schutzmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. [...]

Zuletzt ist die Klägerin auch nicht darauf zu verweisen, internen Schutz in einem anderen Teil der Türkei zu suchen.

Die Klägerin hat geschildert, dass sie Teil einer Großfamilie sei. Zwar wird sich ihre Kernfamilie auf das Gebiet in Bingöl beschränken, jedoch zweifelt das Gericht hier nicht daran, dass diese weit hin in der Türkei verstreut ist, Familienmitglieder u.a. auch in Izmir, Bursa und Istanbul leben und den Kontakt zueinander halten und untereinander pflegen. Insoweit ist es im vorliegenden Einzelfall beachtlich wahrscheinlich, dass sie zum einen ausfindig gemacht werden könnte, insbesondere hat ihr Vater viele Geschäftskontakte und einen gewissen Einfluss, und eine regionale Begrenzung auf das Heimatgebiet liegt - wie ausgeführt - nicht vor, und dass sie zum anderen auch nach einer gewissen Zeit - wie bereits ausgeführt - mangels für sie erreichbarer Schutzmöglichkeiten zu ihrer Familie zurückkehren oder sonstige Entscheidungen treffen müsste. [...]