Bei einem Folgeantrag nach zwischenzeitlicher Ausreise ist eine erneute Rückkehrentscheidung zu treffen:
1. Gemäß § 71 Abs. 5 S. 1 AsylG bedarf es keiner erneuten Abschiebungsandrohung oder -anordnung, wenn ein Folgeantrag nicht zur Durchführung eines weiteren Verfahrens führt. Das gilt dem Wortlaut nach gemäß § 71 Abs. 6 S. 1 AsylG selbst dann, wenn die betroffene Person zwischenzeitlich ausgereist ist.
2. Diese Regelung (§ 71 Abs. 6 S. 1 AsylG i.V.m. § 71 Abs. 5 S. 1 AsylG) widerspricht jedoch Unionsrecht. Denn ist die Person vor dem Folgeantrag ausgereist, ist das Rückkehr- bzw. Rückführungsverfahren abgeschlossen, sodass gemäß der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115 EG) nach erfolgter Wiedereinreise ein neues Rückkehrverfahren eröffnet werden und eine erneute Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebungsandrohung oder -anordnung erlassen werden muss.
(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Potsdam, Beschluss vom 01.03.2023 - 6 L 300/22.A - asyl.net: M31351; offen gelassen: VG Münster, Beschluss vom 20.01.2021 - 8 L 793/20 - openjur.de)
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Die Anträge haben Erfolg. [...]
Zwar bestehen im für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung {§ 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 AsylG) keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, soweit der Folgeantrag als unzulässig und der Abänderungsantrag als unbegründet abgelehnt wurde ((1)). Allerdings bestehen ernstliche Zweifel an der Auffassung der Antragsgegnerin, eine Abschiebung der Antragsteller sei, ohne dass es einer erneuten Abschiebungsandrohung bedürfe, allein auf Grundlage von Ziff. 5 der Bescheide vom 23.03.2016 und 15.04.2016 rechtmäßig ((2)).
(1) Gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ist im Falle eines erneuten Asylantrags nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags (Folgeantrag) ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG vorliegen. [...]
(a) Die Antragsteller haben nicht dargelegt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vorliegen, welches zur Asylanerkennung nach Art. 16a GG, zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG oder zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG geführt hätte. [...]
(b) Ebenso wenig wurden Tatsachen glaubhaft gemacht, aus denen sich ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Abänderung der Bescheide vom 23.03.2016 und 15.04.2016 bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ergäben. [...]
(2) Allerdings bestehen ernstlichen Zweifel an der Auffassung der Antragsgegnerin, eine Abschiebung der Antragsteller sei auf Grundlage von Ziff. 5 der Bescheide vom 23.03.2016 und 15.04.2016 möglich. Das Bundesamt durfte nicht von einem erneuten Erlass einer Abschiebungsandrohung absehen.
Zwar bestimmt § 71 Abs. 5 S. 1 AsylG, dass es zum Vollzug der Abschiebung keiner erneuten Fristsetzung und Abschiebungsandrohung bedarf, wenn der Ausländer einen Folgeantrag stellt und das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnt. Diese Regelung steht auch grundsätzlich in Einklang mit dem Unionsrecht, namentlich mit der Richtlinie 2008/115/EG [...].
Dies gilt jedoch nicht für den Fall, dass der Ausländer - wie hier die Antragsteller - zwischenzeitlich das Bundesgebiet freiwillig verlassen hat. Die Regelung des § 71 Abs. 6 S. 1 AsylG, wonach § 71 Abs. 5 S. 1 AsylG auch im Fall der Wiedereinreise gilt, steht nicht in Einklang mit der Richtlinie 2008/115/EG. War die oder der betroffene Drittstaatsangehörige vor Stellung des Folgeantrags ausgereist, ist in diesem Fall das Rückkehr- respektive Rückführungsverfahren abgeschlossen, weshalb nach erfolgter Wiedereinreise ein neues Rückkehrverfahren eröffnet werden muss und der Erlass einer erneuten Rückkehrentscheidung unerlässlich ist (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 71 Rn. 329 - Stand: Januar 2022).
Auch Folgeantragsteller erwerben mit der Antragstellung und bis zur erstinstanzlichen Entscheidung (durch das Bundesamt) das Recht auf Verbleib nach Art. 9 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (ABl. L 180, S. 60; sog. Verfahrensrichtlinie). Die Ausnahmen nach Art. 9 Abs. 2 und Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU können hier nicht angewandt werden, da die Bundesrepublik von diesen Optionen keinen Gebrauch gemacht hat. Geht man davon aus, dass der Aufenthalt bis zur Eröffnung der Entscheidung des Bundesamtes legal sein muss und legt man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zugrunde, spricht vieles dafür, anzunehmen, dass nach Maßgabe des Art. 6 der Richtlinie 2008/115/EG eine erneute Abschiebungsandrohung zu ergehen hat (ausführlich: Funke-Kaiser, a.a.O. Rn. 155 bis 156; 329; vgl. auch VG Bremen, Beschluss vom 16.05.2022, 7 V 403/22). [...]