VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 01.03.2023 - 6 L 300/22.A - asyl.net: M31351
https://www.asyl.net/rsdb/m31351
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz im Asylfolgeverfahren wegen möglicher Einberufung zum Wehrdienst in der Russischen Föderation:

1. Eine Abschiebungsandrohung erledigt sich nicht durch Ausreise aus dem Bundesgebiet, ist dadurch also nicht "verbraucht", sondern entfaltet gemäß § 71 Abs. 6 S. 1 AsylG weiterhin Wirkung.

2. Aufgrund der drohenden Einziehung des Antragstellers zum Militärdienst in der Russischen Föderation und dem anschließendem Einsatz im Krieg in der Ukraine bzw. der drohenden Sanktionen bei Weigerung liegt eine veränderte Sachlage gemäß § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor und ist wohl ein neues Asylverfahren durchzuführen.

3. Auch wenn dem Antragsteller keine Einberufung aufgrund der Teilmobilmachung vom 21. September 2022 droht, ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass er im Rahmen des Wehrdienstes zu einem Einsatz in der Ukraine herangezogen wird bzw. bei einer Weigerung mit flüchtlingsrelevanten Sanktionen rechnen muss.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht hinsichtlich Ls. 1: VG Bremen, Beschluss vom 03.03.2023 - 6 V 313/23 - asyl.net: M31373; siehe auch: VG Cottbus, Urteil vom 31.08.2022 - 1 K 1228/19.A - asyl.net: M31076)

Schlagwörter: Russische Föderation, Militärdienst, Ukraine-Krieg, Mobilmachung, Wehrpflicht, Wehrdienstentziehung, Wehrdienstverweigerung,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 71 Abs. 6 S. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Rechtlichen Bedenken begegnet indes die Entscheidung des Bundesamts, ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen und den Folgeantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen. Nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters hat der Antragsteller den Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hinreichend schlüssig dargelegt. [...]

(2) Mit dem Vortrag des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren ist indes eine relevante Änderung der Sachlage hinsichtlich der geltend gemachten drohenden Einziehung des Antragstellers im Wege eine Zwangsrekrutierung zum Militärdienst in der Russischen Föderation und anschließendem Einsatz im Krieg in der Ukraine bzw. entsprechender Sanktionen bei einer Weigerung festzustellen.

Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel ist für den zur Entscheidung berufenen Einzelrichter nicht von vornherein und nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass eine Person in dem Alter des Antragstellers – er ist am … 1997 geboren, mithin 25 Jahre alt – mit einer legalen Einberufung oder einer extralegalen Einziehung zu einem Militärdienst bei einer Rückkehr in die Russischen Föderation rechnen muss und das dieser Militärdienst mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeuten würde, dass er sich an Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen beteiligen müsste (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 3 Abs. 2 AsylG). Mithin ist die Zuerkennung internationalen Schutzes für den Antragsteller nicht von vornherein ausgeschlossen.

(a) Zwar liegen zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller eine Einberufung mit Blick auf die (Teil-)Mobilmachung entsprechend des Dekrets des Präsidenten der Russischen Föderation über die Erklärung der (Teil-)Mobilmachung in der Russischen Föderation vom 21. September 2022 (abrufbar unter: kremlin.ru/events/president/news/69391, abgerufen am 1. März 2023) droht. Dabei dürfte der Antragsteller zwar grundsätzlich nach Artikel 51.2 Abs. 2 und Art. 52 des Bundesgesetzes der Russischen Föderation vom 28. März 1998 über die Wehrpflicht und den Militärdienst (Nr. 53-FZ, abrufbar unter: www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_18260/, abgerufen am 23. Februar 2023) zur Reserve gehören. Eine entsprechende Mobilisierung findet derzeit allerdings nicht statt. [...]

(b) Es ist indes nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in die Russische Föderation im Rahmen des Wehrdienstes zu einem Einsatz in der Ukraine herangezogen wird bzw. bei einer Weigerung mit flüchtlingsrelevanten Sanktionen rechnen müsste.

Derzeit besteht in der Russischen Föderation eine Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren gemäß § 22 Abs. 1a des Föderalen Gesetzes über militärische Pflichten und Militärdienst. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller, der in den relevanten Altersbereich fällt und (noch) keinen Wehrdienst geleistet hat, von der Wehrpflicht sicher ausgeschlossen ist, liegen nicht vor. [...]

Den aktuellen Erkenntnissen ist zu entnehmen, dass, dann, wenn – wie auch der Antragsteller vorträgt – ein Einberufungsbefehl ergangen ist, diesem bei Rückkehr Folge zu leisten ist, d.h., dass er bei Rückkehr in die Russische Föderation eingezogen und nach einer Ausbildung im Ukraine-Krieg eingesetzt wird (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 119 m.w.N.). Auch wenn es aktuell keine Hinweise (mehr) auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine gibt (anders noch zuvor: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 9. November 2022, S. 34 f., wonach der Kreml den Einsatz Wehrpflichtiger an Kampfeinsätzen zugab), ist den aktuellen Erkenntnissen indes zu entnehmen, dass Wehrpflichtige in Grenzregionen sowie auf die von Russland besetzte Krim verbracht werden und unter Druck gesetzt wurden, ihre Dienstzeit durch Freiwilligenverträge zu verlängern (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 3. Februar 2023, S. 35 m.w.N.). Mithin ist nicht nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass der Antragsteller zum Einsatz in der Ukraine gezwungen wird.

Ebenfalls nicht nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen ist, dass die russischen Sicherheitskräfte ihn bei einer etwaigen Wehrdienstentziehung nicht eine politische Regimegegnerschaft mit entsprechender staatliche Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 i.V.m § 3 Abs. 2 AsylG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG unterstellen würden (vgl. hinsichtlich Syrien dazu etwa: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 – OVG 3 B 108.18 –, juris). [...] Ob und inwiefern der Antragsteller aufgrund dieses Sachverhalts tatsächlich einen Anspruch auf Gewährung internationalen Schutzes hat, insbesondere, ob ihm eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und ob diese Verfolgungshandlung an seine politische Überzeugung anknüpft, ist hier nicht abschließend zu klären.

Ebenfalls spricht überwiegendes dafür, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Militäreinsatz handelt (vgl. dazu: IGH, Entscheidung vom 16. März 2022 – Ukraine v. Russian Federation; Äußerungen des Außenministers der USA, Blinken vom 18. Februar 2023, abrufbar unter: www.state.gov/crimes-against-humanity-in-ukraine: "Based on a careful analysis of the law and available facts, I have determined that members of Russia’s forces and other Russian officials have committed crimes against humanity in Ukraine. Members of Russia’s forces have committed execution-style killings of Ukrainian men, women, and children; torture of civilians in detention through beatings, electrocution, and mock executions; rape; and, alongside other Russian officials, have deported hundreds of thousands of Ukrainian civilians to Russia, including children who have been forcibly separated from their families. These acts are not random or spontaneous; they are part of the Kremlin’s widespread and systematic attack against Ukraine’s civilian population.", abgerufen am: 1. März 2023). [...]