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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.01.2023 - 12 S 1841/22 (Asylmagazin 4/2023, S. 120 ff.) - asyl.net: M31363
https://www.asyl.net/rsdb/m31363
Leitsatz:

Ausweisung einer Person mit Abschiebungsverbot nur ohne Abschiebungsandrohung möglich:

1. Eine Person, für die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt hat, darf gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG aus generalpräventiven Gründen inlandsbezogen ausgewiesen werden.

2. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit der Ausweisung eine Abschiebungsandrohung in das Land erlassen werden darf, bezüglich dessen ein Abschiebungsverbot festgestellt wurde. Denn eine Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG verfehlt ihren Zweck, wenn die Durchsetzung der Ausreisepflicht aufgrund des Abschiebungsverbots auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist. Eine solche Abschiebungsandrohung verstößt als Rückkehrentscheidung auch gegen den gemäß Art. 5 RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie; Rückf-RL) zu beachtenden Grundsatz der Nichtzurückweisung.

3. Die aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung folgende Unmöglichkeit, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, führt jedoch nicht dazu, dass aufgrund Art. 6 Abs. 4 Rückf-RL eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen wäre; ausreichend ist eine langfristige Duldung gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG.

4. Steht dem Erlass einer Rückkehrentscheidung der Grundsatz der Nichtzurückweisung entgegen und darf deshalb gemäß Art. 11 Rückf-RL auch kein Einreiseverbot verfügt werden, besteht keine Befugnis, ein rein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Denn in unionskonformer Auslegung des § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG darf ein Einreiseverbot nicht ohne Rückkehrentscheidung erlassen werden. Unberührt bleibt jedoch die Befugnis, eine Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 S. 2 AufenthG zu erlassen. Für die Festlegung der Dauer der Titelerteilungssperre gelten die Grundsätze für die Bestimmung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots entsprechend.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 22.11.2022 - C-69/21 X gg. Niederlande - asyl.net: M31092; BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 - asyl.net: M27503)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Ausweisung, Aufenthaltserlaubnis, Duldung, Refoulement, Nichtzurückweisung, Abschiebungsandrohung, Abschiebungsandrohung auf Vorrat, Rückführungsrichtlinie, Rückkehrentscheidung, Einreisesperre, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Titelerteilungssperre, Generalpräventiver Zweck, Iran, PDKI
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 59 Abs. 1, AufenthG § 59 Abs. 3 S. 2, EMRK Art. 3, RL 2008/115/EG Art. 3, RL 2008/115/EG Art. 5, RL 2008/115/EG Art. 6, RL 2008/115/EG Art. 11
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt nahm die Verurteilung durch das Landgericht [...] zum Anlass, mit Bescheid vom 25.07.2018 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen. [...] Das Bundesamt stellte in dem Bescheid aber fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliege, da aufgrund der unveränderten Verfolgungssituation von Unterstützern der PDKI dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. [...]

Mit Bescheid vom 12.12.2019 verfügte das Regierungspräsidium [...] die Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland. Es ordnete zudem infolge der Ausweisung ein auf neun Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an. Eine Abschiebungsandrohung enthielt der Bescheid nicht.

Gegen den Bescheid vom 12.12.2019 hat der Kläger fristgerecht Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben. Während des gerichtlichen Verfahrens hat das Regierungspräsidium [...] mit Bescheid vom 02.03.2022 den Bescheid vom 12.12.2019 bezüglich des Einreise- und Aufenthaltsverbots abgeändert und nunmehr ein achtjähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, dessen Frist mit der Ausreise bzw. Abschiebung zu laufen beginnt. Außerdem hat das Regierungspräsidium den Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist aufgefordert, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Zudem ist ihm für den Fall, dass er innerhalb dieser Frist nicht freiwillig ausreist, die Abschiebung in den Iran oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist, auf seine Kosten angedroht worden. Weiter ist geregelt, dass der Kläger bis zum vollziehbaren Widerruf des durch das Bundesamt mit Bescheid vom 25.07.2018 festgestellten Abschiebungsverbots nicht in den Iran abgeschoben werden darf. [...]

Das Verwaltungsgericht Sigmaringen hat nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung mit Urteil vom 09.03.2022 - 10 K 222/20 - die Verfügung des Regierungspräsidiums [...] vom 12.12.2019 in Gestalt der Ergänzung vom 02.03.2022 aufgehoben. Es hat angenommen, dass die Voraussetzungen für eine Ausweisung nicht vorlägen und allein aus diesem Grund auch der Klage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots stattgegeben. [...]

Gegen das am 22.03.2022 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen hat der Senat auf den am 11.04.2022 gestellten und am 13.05.2022 begründeten Antrag des Beklagten mit Beschluss vom 18.08.2022 - 12 S 884/22 - die Berufung zugelassen. [...]

Die Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entscheidet (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO) ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet. [...]

Die Berufung des Beklagten hat bezüglich der Ausweisung Erfolg (A). Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung (B) und des achtjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots (C) ist die Berufung unbegründet. [...]

A) Die unter Ziffer 1 des Bescheids des Regierungspräsidiums [...] vom 12.12.2019 verfügte Ausweisung, die ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG findet, ist rechtmäßig. Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen (I.) gefährdet der Aufenthalt des Klägers wegen der Erfüllung eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wobei die Gefährdung auf spezialpräventiven und auch auf generalpräventiven Gründen beruht (II.). Unabhängig davon, ob ein spezial- oder generalpräventives Ausweisungsinteresse zugrunde gelegt wird, überwiegt unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet (III.) nach der gebotenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls das öffentliche Interesse an der Ausweisung (IV.). [...]

II. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

1. Bei dem Kläger liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.v. § 53 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, denn er ist mit dem seit 29.12.2016 rechtkräftigen Urteil des Landgerichts [...] vom 27.10.2016 - 5 Ks 13 Js 6616/16 - wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. [...]

3. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist aufgrund der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr gegeben. [...]

4. Zudem liegt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus generalpräventiven Gründen vor.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann auch nach dem seit 01.01.2016 geltenden Ausweisungsrecht eine Ausweisung allein auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.v. § 53 Abs. 1 AufenthG auch dann ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-) Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 17 unter Verweis auf Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11 -, juris Rn. 17 ff.; Fleuß, jurisPR-BVerwG 21/2021 Anm. 2 unter C.). [...]

III. Dem Kläger steht das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zur Seite. [...]

IV. Die nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG gebotene Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses einerseits und des privaten Bleibeinteresses andererseits anhand aller Umstände des Einzelfalls unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. allg. zu den Maßstäben etwa BVerwG, Urteile vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 33, und vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 24 ff.; Dörig in: Dörig, Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 40 ff.; Fleuß in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 53 Rn. 37 ff., Rn. 61 ff., m.w.N. <Stand: 01.10.2022>) führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung die privaten Interessen des Klägers überwiegt. [...]

5. Auf die Rechtmäßigkeit der Ausweisung hat es keinen Einfluss, dass - wie aus nachfolgend B) ersichtlich - die Abschiebungsandrohung rechtswidrig und daher aufzuheben ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 40). Auch die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (unter C) hat keine Folgen für die Ausweisung (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.05.2019 - 1 C 21.18 -, juris Rn. 10).

B) Die mit Bescheid des Regierungspräsidiums ... vom 12.12.2019 in Gestalt des Bescheids vom 02.03.2022 i.V.m. mit der Protokollerklärung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung des Senats verfügte Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 der Ausweisungsverfügung) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Zwar ist nach nationalem Recht die Abschiebungsandrohung nicht insgesamt rechtswidrig, weil entgegen § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG der Iran nicht als der Staat bezeichnet wird, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf. Die Abschiebungsandrohung verfehlt jedoch den ihr gemäß § 59 AufenthG beigemessenen Zweck, wenn - wie hier - in dem für ihre Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt feststeht, dass die Durchsetzung der Ausreisepflicht aus zwingenden rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist; sie ist daher vollständig aufzuheben (I.).

Darüber hinaus ist die Abschiebungsandrohung aufgrund der Vorgaben des Unionsrechts in Gestalt der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98; - Rückführungsrichtlinie - im Folgenden: Richtlinie 2008/115/EG) aufzuheben. Benennt eine Abschiebungsandrohung, die die Rückkehrentscheidung i.S.d. Richtlinie 2008/115/EG darstellt, als Zielland der Rückkehr einen Staat, für den das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt hat, verstößt dies gegen den nach Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG schon bei Erlass der Rückkehrentscheidung einzuhaltenden Grundsatz der Nichtzurückweisung. Aufgrund des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22.11.2022 (C-69/21, X, juris Rn. 53 ff.) ist dies unionsrechtlich geklärt (II.).

I. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsandrohung ist § 59 AufenthG.

Nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist eine Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Nach § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG soll in der Androhung der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht dem Erlass der Androhung das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf (§ 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG).

1. Die wirksame Ausweisung begründet nach § 50 Abs. 1 AufenthG die Pflicht des Ausländers zur Ausreise, da sie nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG zum Erlöschen des Aufenthaltstitels - hier in Gestalt der Niederlassungserlaubnis - führt; nach § 50 Abs. 2 AufenthG hat der Ausländer das Bundesgebiet unverzüglich, oder wenn ihm eine Ausreisefrist gesetzt ist, bis zum Ablauf der Frist zu verlassen (vgl. näher Hoppe in: GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 101, 103 <Stand: 4/2022>).

Die Abschiebungsandrohung ist eine bereits in der Verwaltungsvollstreckung (vgl. § 12 LVwVG) zur Einleitung der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 und 2 AufenthG) getroffene Maßnahme (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 08.06.2022 - 12 S 3027/21 -, juris Rn. 24, und vom 18.12.1991 - 11 S 1275/91 -, juris Rn. 6). Sie verfolgt u.a. den Zweck, den betroffenen Ausländer auf seine Ausreisepflicht hinzuweisen, ihn vor einer möglichen Abschiebung zu warnen und ihm zu ermöglichen, seine persönlichen Angelegenheiten zeitnah zu ordnen und die freiwillige Ausreise vorzubereiten. Zum Zwecke der Beschleunigung und Vereinfachung der Durchsetzung der Ausreisepflicht mit den Mitteln des Verwaltungszwangs ergeht die Abschiebungsandrohung gerade unabhängig davon, ob der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür erkennbar geworden sind, dass der Ausländer seiner Ausreisepflicht möglicherweise nicht freiwillig nachkommen wird. Den Zwecken der Beschleunigung und Vereinfachung der Durchsetzung der Ausreisepflicht dient auch die in § 59 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG statuierte Loslösung der Abschiebungsandrohung von etwaig bestehenden zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten und inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen (vgl. Fleuß, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Ausländerrecht im Jahre 2022, ZAR 2023, 25, 41; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 59 Rn. 2 ff.; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 40 <Stand: 9/2022>; Kluth in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, § 59 Rn. 3 ff. <Stand: 01.10.2022>).

Die nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorgesehene Möglichkeit, eine Abschiebungsandrohung ohne Rücksicht auf Abschiebungsverbote zu erlassen, um "auf Vorrat" die rechtlichen Voraussetzungen für eine Durchsetzung der Ausreisepflicht zu schaffen, wenn sich später eine anderweitige Abschiebungsmöglichkeit als diejenige in den nach Satz 2 zu bezeichnenden Zielstaat, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf, ergibt, oder wenn das Abschiebungsverbot entfällt, verfehlt jedoch ihren Zweck, wenn in dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung maßgebenden Zeitpunkt feststeht, dass aus zwingenden rechtlichen Gründen eine Vollstreckung der Ausreisepflicht auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.11.2021 - 2 M 124/21 -, juris Rn. 12; VG Sigmaringen, Urteil vom 12.07.2022 - 14 K 1888/21 -, juris Rn. 89; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 59 Rn. 53; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 53 <Stand: 9/022>; Hailbronner, AuslR, § 59 Rn. 39 <Stand: 2/2020>; Gordzielik in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 59 Rn. 20). Einer Aufforderung, die Ausreisepflicht zu beachten, verbunden mit der Androhung, diese zwangsweise durchzusetzen, stünde in diesem Fall das grundsätzliche Verbot entgegen, eine zwangsläufig rechtswidrige Vollstreckungshandlung anzudrohen (vgl. Fleuß, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Ausländerrecht im Jahre 2022, ZAR 2023, 25, 41 f.; Hailbronner, AuslR, § 59 Rn. 39 <Stand: 2/2020>).

2. Die Abschiebungsandrohung ist nicht deshalb rechtswidrig, weil die Ausreisefrist fehlerhaft bestimmt worden wäre. [...]

3. Die Abschiebungsandrohung ist auch nicht deshalb insgesamt rechtswidrig, weil ungeachtet der für die Ausländerbehörde nach § 42 Satz 1 AsylG bindenden Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich des Iran vorliegt, dieses Land entgegen § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht als der Staat bezeichnet wird, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf. [...]

4. Die Abschiebungsandrohung ist aber insgesamt rechtswidrig, weil sie ihren Zweck verfehlt. Aufgrund des zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und der diesem zugrunde liegenden Gegebenheiten ist die Abschiebung in den Iran - ebenso wie im Übrigen zuvor eine freiwillige Rückkehr dorthin - auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen, weil dem Kläger in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit Verfolgung droht. Auch eine freiwillige Ausreise oder eine Abschiebung in ein anderes Drittland kommt realistischer Weise nicht in Betracht. In einer solchen Konstellation verfehlt die Abschiebungsandrohung erkennbar ihren Zweck. Nichts anderes gälte, wenn man die Regelung unter Ziffer 3.3 der Verfügung als eine nach nationalem Recht ordnungsgemäße auflösend bedingte Zielstaatsbezeichnung im Sinne von § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verstünde.

a) Die Ausländerbehörde, in deren Zuständigkeit die Prüfung der Abschiebungsandrohung fällt, ist - wie bereits ausgeführt - an die auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts unverändert bestehende Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK durch das Bundesamt aufgrund des Bescheids vom 25.07.2018 nach § 42 Satz 1 AsylG gebunden. [...]

b) Geht man davon aus, dass ungeachtet der Bindungswirkung nach § 42 Satz 1 AsylG bei der Prüfung einer Abschiebungsandrohung unter dem Aspekt der Zweckverfehlung ausländerrechtlich eine Prognose durchzuführen ist, ob voraussichtlich auch künftig von einem Fortbestehen der Feststellung einer Art. 3 EMRK verletzenden Situation auszugehen ist, weil andernfalls der Anwendungsbereich von § 59 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AufenthG in einer der Intention des Gesetzgebers widersprechenden Weise reduziert wäre (vgl. den Zweck der Verfahrensbeschleunigung oben <unter I.1.> sowie die entsprechende Begründung im Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens, BT-Drs. 12/2062 vom 12.02.1992, S. 43 f. zu § 50 Abs. 3 AuslG i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26.06.1992, BGBl. I S. 1126, der die Ausgangsfassung des heutigen § 59 Abs. 3 AufenthG darstellt), bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die an die oppositionelle Gesinnung und Tätigkeit des Klägers anknüpfende politische Verfolgung durch den iranischen Staat in der Zukunft unterbleiben würde. [...]

Es ist zudem nicht ersichtlich, dass der Kläger die für ihn mit einer Rückkehr in den Iran verbundenen Risiken durch eine freiwillige Ausreise auf sich nehmen würde.

Mit Blick auf die in der Abschiebungsandrohung enthaltene Formulierung, dass dem Kläger die Abschiebung in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Übernahme verpflichtet sei, angedroht werde, die § 50 Abs. 2 AufenthG aufgreift, welche als eine lediglich ordnungsrechtliche Vorschrift verstanden wird, auf deren Grundlage der Betroffene ohne erneute Zielstaatsbezeichnung durch gesonderten Bescheid ohnehin nicht abgeschoben werden könnte (Bayerischer VGH, Beschluss vom 12.07.2022 - 24 ZB 22.30285 -, juris Rn. 9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.01.2020 - 19 A 2730/19.A -, juris Rn. 3 ff., jew. m.w.N.; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 65, m.w.N. <Stand: 9/2022>), ist ebenfalls nicht erkennbar, dass die Abschiebungsandrohung ihren Zweck erfüllen könnte. [...]

Selbst wenn man im Übrigen den Irak in den Blick nehmen würde, ist nicht ersichtlich, dass eine Abschiebung in diesen Staat in Betracht käme. Dorthin könnte er - ungeachtet der Frage, ob der Irak ihn überhaupt aufnehmen würde - nicht abgeschoben werden, weil iranische Sicherheitsdienste unverändert vor allem in den Kurdengebieten des Irak aktiv sind und nach wie vor dort Oppositionelle verfolgen (vgl. etwa Home Office, Country Policy and Information Note, Iran: Kurds and Kurdish political groups, Version 4.0, May 2022, Section 14.2) und der Kläger voraussichtlich in anderen Landesteilen des Irak ebenfalls nicht sicher wäre. [...]

II. Die im vorliegenden Fall verfügte Abschiebungsandrohung, die ihrerseits die Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Richtlinie 2008/115/EG darstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 41, 45 und 56, m.w.N., und EuGH-Vorlage vom 08.06.2022 - 1 C 24.21 -, juris Rn. 18, 21; Senatsbeschluss vom 30.05.2022 - 12 S 485/22 -, juris Rn. 44; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 334 <Stand: 9/2022>), verstößt gegen die Verpflichtung zur Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nach Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG und ist daher rechtswidrig.

1. Drittstaatsangehörige, die wegen strafgerichtlicher Verurteilung ausgewiesen worden sind, sind in Deutschland nicht aufgrund von Art. 2 Abs. 2 lit. b) Richtlinie 2008/115/EG dem gesamten Anwendungsbereich der Richtlinie entzogen (BVerwG, Beschlüsse vom 09.05.2019 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 37, und vom 06.05.2020 - 1 C 14.19 -, juris Rn. 4 ff.; dies nachfolgend aufgreifend EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-546/19, BZ -, juris Rn. 39, 48; erneut ebenso BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 54; siehe auch Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 34 f. <Stand: 10/2022>), insbesondere ist die gegen sie erlassene Abschiebungsandrohung an ihren Vorgaben zu messen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris Rn. 75 ff.; siehe allg. etwa BVerwG, EuGH-Vorlage vom 08.06.2022 - 1 C 24.21 -, juris Rn. 22 ff., und BVerwG, Urteil vom 29.05.2018 - 1 C 17.17 -, juris Rn. 24).

2. Nach Art. 3 Nr. 3 Richtlinie 2008/115/EG bezeichnet Rückkehr die Rückreise von Drittstaatsangehörigen - in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückkehr - in deren Herkunftsland (1. Spiegelstrich) oder ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen (2. Spiegelstrich) oder ein anderes Drittland, in das der Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird (3. Spiegelstrich). Aus dieser Begriffsbestimmung wird geschlossen, dass Rückkehr in Einklang mit der Richtlinie nur unter diesen abschließend aufgeführten Umständen erfolgen kann (vgl. Lutz in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Chp. 11 Art. 3 Rn. 10). Unionsrechtlich darf die Androhung der Abschiebung in ein anderes Drittland (3. Spiegelstrich) nur erfolgen, wenn - wie der Wortlaut verdeutlicht - der Betroffene mit seiner Aufenthaltsbeendigung dorthin ausdrücklich einverstanden ist (Lutz in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Chp. 11 Art. 3 Rn. 12; Dollinger in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 59 Rn. 42).

a) Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG verpflichtet dazu, in einer Rückkehrentscheidung eines der in Art. 3 Nr. 3 Richtlinie 2008/115/EG abschließend aufgeführten Zielländer der Rückkehr anzugeben. [...]

b) Die vom Regierungspräsidium verfügte Abschiebungsandrohung benennt kein konkretes Land nach dem 2. oder 3. Spiegelstrich des Art. 3 Nr. 3 Richtlinie 2008/115/EG als Zielort der Rückführung. Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine Rückführung des Klägers in ein Transitland (vgl. zur Auslegung dieser Variante Lutz in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Chp. 11 Art. 3 Rn. 12) möglich wäre. Gleichfalls gibt es keine Anhaltspunkte für eine Bereitschaft des Klägers, mit einem anderen Drittland für einen Verbleib einverstanden zu sein, in das er zudem auch aufgenommen werden müsste. [...]

c) Die Rückkehrentscheidung unter Benennung des Iran verstößt gegen die in Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG normierte Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, da dem Kläger mit Bezug auf den Iran ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK zuerkannt ist.

aa) Dem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK kommt absoluter Charakter zu; es kann - anders als das Refoulement-Verbot nach Art. 33 Abs. 1 GFK - auch nicht unter den Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 Richtlinie 2011/95/EU i.V.m. Art. 33 Abs. 2 GFK durchbrochen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 48 unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 05.04.2016 - C-404/15 und C-659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru -, juris - Rn. 85 - 87; EGMR, Urteil vom 17.12.1996 - Nr. 71/1995/577/663, Ahmed/Österreich -, NVwZ 1997, 1100 Rn. 39 - 41). Art. 3 EMRK kennt keine Ausnahmen und Art. 15 Abs. 2 EMRK lässt keine Abweichung von Art. 3 EMRK zu. Selbst bei einer großen Gefahr für die Allgemeinheit verbietet die Konvention ausnahmslos Folter und unmenschliche und erniedrigende Strafen oder Behandlungen und lässt eine Rückführung in einen Staat, in welchem der Betroffene dem ernsthaften Risiko einer solchen Behandlung ausgesetzt ist, nicht zu (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 29.04.2019 - 12148/18, A. M./Frankreich -, NVwZ 2020, 535 Rn. 112 ff.; Nußberger, Zur Rechtsprechung des EGMR zu Fragen der Staatenverantwortung in Migrationsfällen, NVwZ 2016, 815, 822). Unionsrecht bestimmt nichts anderes. Nach Art. 19 Abs. 2 GRCh darf nicht nur niemand in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe besteht, vielmehr gilt dies auch für einen Staat, in dem das ernsthafte Risiko der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh besteht. Das in Art. 4 GRCh aufgestellte Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 GRCh bezieht. [...]

Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG verpflichtet die zuständige nationale Behörde, in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten (EuGH, Urteil vom 22.11.2022 - C-69/21, X -, juris Rn. 55, und vom 24.02.2021 - C-673/19, M, A und T -, juris Rn. 40). Dies gilt bereits für den Erlass der Rückkehrentscheidung, weshalb die Behörde keinen Staat als Zielort der Aufenthaltsbeendigung festlegen darf, hinsichtlich dessen für den Drittstaatsangehörigen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK besteht. [...]

Neben dem eindeutigen Wortlaut des Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG, der dazu verpflichtet, alle dort genannten Gründe in allen Stadien des Verfahrens zu prüfen und nicht etwa erst nach Erlass der Rückkehrentscheidung (vgl. EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19, TQ -, juris Rn. 44, 51), verdeutlicht auch die Intention der Richtlinie, dass ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK dem Erlass einer Rückkehrentscheidung entgegensteht. [...]

cc) Soweit der Gerichtshof (4. Kammer) im Urteil vom 03.06.2021 (C-546/19, BZ, juris Rn. 55 - 59) entschieden hat, dass bei einem ausgewiesenen, illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach Art. 3 EMRK es nicht rechtfertige, von einer Rückkehrentscheidung abzusehen, sondern nur, seine Abschiebung in Vollstreckung dieser Entscheidung aufzuschieben, ist dieses Urteil, das sich im Übrigen zu Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG nicht näher verhält, nicht mit der bisherigen Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs zu Art. 5 Richtlinie 2008/115/EG (siehe etwa EuGH, Urteile vom 24.02.2021 - C-673/19, M, A und T -, juris Rn. 40, vom 14.01.2021 - C-441/19, TQ -, juris Rn. 58 ff., und vom 11.12.2014 - C-249/13, Boudjlida -, juris Rn. 48 f.) in Einklang zu bringen [...].

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Umgang mit dem Urteil vom 03.06.2021 bei der inlandsbezogenen Ausweisung offen gelassen (BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris 41 f.; Berlit, jurisPR-BVerwG 15/2022 Anm. 1 unter E. zur EuGH-Vorlage des BVerwG vom 08.06.2022 - 1 C 24.21 -, juris). Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 20.10.2021 - Ra 2021/20/0246 (EU 2021/0007) - beim Gerichtshof (C-663/21) ein Vorabentscheidungsersuchen u.a. zur Frage eingereicht, ob eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits im Zeitpunkt des Ergehens der Rückkehrentscheidung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbots des Refoulements auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist und dies auch in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt ist (vgl. zu dieser Vorlage auch Münch, TQ und BZ reloaded?, InfAuslR 2022, 393 ff.). Hierüber ist noch nicht entschieden worden.

dd) Es besteht kein Anlass für den Senat, die Entscheidung des Gerichtshofs in der vorgenannten Rechtssache C-663/21 oder zumindest die Schlussanträge des Generalanwalts abzuwarten. Ebenso wenig bedarf es einer weiteren Vorlage.  Denn durch das Urteil der Großen Kammer vom 22.11.2022 (C-69/21 -, juris Rn. 53 ff.) ist im Sinne eines acte-clair entschieden, dass Art. 5 Richtlinie 2008/115 dem entgegen steht, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung ergeht, wenn in dieser Entscheidung als Zielland ein Land angegeben wird, bei dem es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 18 oder Art. 19 Abs. 2 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre. Die Große Kammer hat damit die Ausführungen des Gerichthofs im Urteil vom 24.02.2021 (C-673/19, M, A und T -, juris) bestätigt. [...]

C) Das mit Ziffer 2 des Bescheids vom 12.12.2019 in Gestalt des Bescheids vom 02.03.2022 in der Fassung der Erklärung zu Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 08.11.2022 angeordnete achtjährige Einreise- und Aufenthaltsverbot ist rechtswidrig. Da die wirksame (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und nach den obigen Ausführungen (unter A) rechtmäßige Ausweisung aufgrund des für den Kläger festgestellten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nach Unionsrecht nicht mit einer Abschiebungsandrohung verbunden werden darf (oben unter B), richten sich die aufenthaltsrechtlichen Folgen nach dem nationalen Recht (I.). Gleichwohl kann ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht verfügt werden; die unabhängig davon bestehende Titelerteilungssperre erweist sich hinsichtlich ihrer Dauer als ermessensfehlerhaft (II.).

I. Die aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung folgende Unmöglichkeit des Erlasses einer Rückkehrentscheidung führt dazu, dass allein das nationale Recht über den Aufenthalt des Klägers bestimmt.

1. Die mit der Richtlinie 2008/115/EU geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beziehen sich nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung, da diese Richtlinie nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren; folglich regelt diese Richtlinie weder die Art und Weise, in der Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen ist, noch die Folgen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aus dem illegalen Aufenthalt Drittstaatsangehöriger ergeben, gegenüber denen keine Entscheidung über die Rückführung in ein Drittland erlassen werden kann (vgl. EuGH, Urteile vom 22.11.2022 - C-69/21, X -, juris Rn. 84, vom 24.02.2021 - C‑673/19, M, A und T -, juris Rn. 39 ff., vom 08.05.2018 - C‑82/16, K. A. u.a. -, juris Rn. 44 f., und vom 05.06.2014 -C‑146/14 PPU, Mahdi -, juris Rn. 87; BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 41).

2. Sofern keine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, folgt hieraus jedoch kein Zwang zur Legalisierung, insbesondere ergibt sich ein solcher nicht aus Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Richtlinie 2008/115/EG (vgl. EuGH, Urteile vom 22.11.2022 - C-69/21, X -, juris Rn. 86, und vom 24.02.2021 - C‑673/19, M, A und T -, juris Rn. 43 f.; Lutz in: Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Chp. 11 Art. 6 Rn. 21; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 343 <Stand: 12/2022>, und § 11 Rn. 55 <Stand: 10/2022>, jew. m.w.N.). Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Für das Verständnis der "sonstigen Aufenthaltsberechtigung" ist maßgebend, dass es allein darauf ankommt, den weiteren Aufenthalt irgendwie zu regeln; es wird nicht - im Unterschied zum ebenfalls genannten Aufenthaltstitel - gefordert, dass hiermit auch eine Legalisierung verbunden ist. Die im Fall des ausgewiesenen Klägers eintretende längerfristige Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aufgrund des durch das Bundesamt festgestellten Abschiebungsverbots ist als eine "sonstige Aufenthaltsberechtigung" zu verstehen (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 59 Rn. 343 <Stand: 12/2022>; Kluth, Die Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH zur EU-Rückführungsrichtlinie auf das Rechtsinstitut der Duldung nach dem Aufenthaltsgesetz, ZAR 2021, 416, 417; Hoppe in: GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 124 <Stand: 4/2022>). Die Duldung, über die nach § 60a Abs. 4 AufenthG eine Bescheinigung ausgestellt wird, setzt nicht voraus, dass es eine Abschiebungsandrohung gibt. Sie genügt prinzipiell zur Sicherung des durch Art. 3 EMRK vermittelten Schutzes. Art. 3 EMRK gewährleistet kein Aufenthaltsrecht in einem bestimmten Staat, es schützt nur vor einer Abschiebung des Ausländers in einen Staat, in dem die ernsthafte Gefahr einer Behandlung besteht, die Art. 3 EMRK widerspricht (Meyer-Ladewig/Lehnert in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 3 Rn. 64 f., m.w.N.).

II. Das vom Regierungspräsidium angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot mit einer Dauer von acht Jahren mit Beginn der Frist ab Ausreise bzw. Abschiebung, das als ein Einreiseverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 3 Nr. 6, Art. 11 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG angeordnet ist, welches mit einer Rückkehrentscheidung (in Gestalt der Abschiebungsandrohung) einhergeht (vgl. im Einzelnen die Begründung des Bescheids vom 02.03.2022, S. 2 ff., die u.a. ausdrücklich auf Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2 Richtlinie 2008/115/EG Bezug nimmt), hat infolge der Aufhebung der Rückkehrentscheidung unionsrechtlich keinen Bestand. Es lässt sich auch nicht als ein solches nach nationalem Recht aufrechterhalten. Steht bei einer inlandsbezogenen Ausweisung unionsrechtlich der Grundsatz der Nichtzurückweisung dem Erlass einer Rückkehrentscheidung nach § 6 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG entgegen, weshalb - mangels Rückkehrentscheidung - auch kein Einreiseverbot nach Art. 11 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG verfügt werden darf, besteht keine Befugnis, ein rein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen (1.). Hiervon unberührt bleibt jedoch die Anordnung der sich allein nach nationalem Recht richtenden Titelerteilungssperre nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (2.). Indessen ist die in der angefochtenen Verfügung der Sache nach getroffene Regelung, dass dem Kläger selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt wird, wegen einer ermessensfehlerhaft bestimmten Dauer der Titelerteilungssperre infolge einer inlandsbezogenen Ausweisung, für die die Grundsätze zur Bestimmung der Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots entsprechend gelten, aufzuheben (3.).

1. Für die Anordnung eines nationalen Einreise- und Aufenthaltsverbots infolge einer Ausweisung fehlt es an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage. Im Übrigen steht ein solches Verbot bei einer inlandsbezogenen Ausweisung wegen der Notwendigkeit der Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung nicht in Einklang mit vorrangigem Unionrecht.

a) Zwar entspricht es auch unter der Richtlinie 2008/115/EG, die nach ihrem Art. 20 Abs. 1 seit dem 24.12.2010 (unmittelbar) gilt, und den danach vorliegenden verschiedenen Gesetzesfassungen von § 11 AufenthG (ausgehend vom Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der EU und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 <BGBl. I S. 2258> bis zur derzeit anzuwendenden Fassung in Gestalt des Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 <BGBl. I S. 1294>) der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass infolge einer Ausweisung, die wegen eines durch das Bundesamt zuerkannten internationalen Schutzes bzw. eines Abschiebungsverbots (u.a. nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) nur inlandsbezogen erfolgen darf, ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG vorzusehen ist (vgl. u.a. BVerwG, Urteile vom 25.07.2017 - 1 C 12.16 -, juris Rn. 31, 34, vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 65 f., und Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 -, juris Rn. 3; siehe auch Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 -, juris Rn. 42; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2021 - 12 S 2505/20 -, juris Rn. 137 ff.; OVG Bremen, Beschluss vom 19.08.2022 - 2 LA 394/21 -, juris Rn.23 i.V.m. Rn. 29 ff.). Jedoch haben Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Richtlinie 2008/115/EU vor allem aus jüngerer Zeit ihre Auslegung weiter präzisiert (vgl. insb. EuGH, Urteile vom 22.11.2022 - C-69/21, X -, juris, vom 03.06.2021 - C-546/19, BZ -, juris, vom 24.02.2021 - C-673/19, M, A und T -, juris, und vom 14.05.2020 - C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, FMS u.a. -, juris), was auch für die unionskonforme Anwendung des nationalen Rechts, mit dem die Rückführungsrichtlinie umgesetzt worden ist, zu beachten ist. Aus diesen Entscheidungen folgt in der Gesamtschau, dass eine Rückkehrentscheidung nicht ergehen darf, wenn sie gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde, und dass ein Einreiseverbot ohne Rückkehrentscheidung keinen Bestand hat. Dies gibt Anlass, die Zulässigkeit eines rein nationalen Einreise- und Aufenthaltsverbots infolge einer inlandsbezogenen Ausweisung in einem anderen Licht zu sehen. [...]

Die unionskonforme Anwendung des § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG im Lichte der Rückführungsrichtlinie führt dazu, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot mit einer Rückkehrentscheidung, die im nationalen Recht die Abschiebungsandrohung und nicht die Ausweisung darstellt [...], einhergehen muss, also ein Einreiseverbot nicht ohne Rückkehrentscheidung bestehen darf (BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 51, 55), auch wenn im umgekehrten Fall nach Art. 11 Richtlinie 2008/115/EG zu einer Rückkehrentscheidung nicht immer ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden muss, sondern nur in den Fällen ihres Art. 11 Abs. 1 UAbs. 1. Ein solches Verbot entfaltet seine Wirkungen erst ab dem Zeitpunkt, zu dem der Betreffende das Hoheitsgebiet tatsächlich verlässt [...].

c) Auch wenn davon auszugehen ist, dass die Richtlinie 2008/115/EG kein exklusives Instrument der Gefahrenabwehr darstellt, sondern in Fällen, die nicht von der Rückführungsrichtlinie abschließend erfasst werden, nach einer nationalen Rechtsvorschrift ein Einreiseverbot verhängt werden kann (vgl. hierzu Hoppe in: GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff. Rn. 129 ff. <Stand: 4/2022>; Schlussanträge des Generalanwalts vom 24.11.2022 - C-528/21, M.D. -, juris Rn. 49 ff.), gibt es de lege lata keine eigenständige Ermächtigungsgrundlage für ein separates, rein national zu verfügendes Einreiseverbot; vielmehr gibt es nur eine einzige Regelung in § 11 AufenthG, mit der der Gesetzgeber - wie ausgeführt - aber die Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG bezweckt hat.

aa) Für die inlandsbezogene Ausweisung, die zwangsläufig ohne Abschiebungsandrohung ergeht, ist § 11 AufenthG keine taugliche Ermächtigungsgrundlage um hieran ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbots anzuknüpfen. [...]

d) Im Übrigen ist ein bei der inlandsbezogenen Ausweisung allein nach nationalem Recht vorgesehenes Einreise- und Aufenthaltsverbot für den weiter hier lebenden Ausländer mit dem unionsrechtlich intendierten Schutz eines Drittstaatsangehörigen, der sich auf die Verpflichtung des Mitgliedstaats zur Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung berufen kann, nicht in Einklang zu bringen. Unionsrecht untersagt den Erlass einer Rückkehrentscheidung in den Verfolgerstaat - unabhängig davon, ob diese bedingt oder unbedingt formuliert wird. Folglich kommt auch der Erlass eines Einreiseverbots nicht in Betracht. [...]

2. Soweit § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG normiert, dass infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten darf noch ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden darf, enthält § 11 AufenthG die Ermächtigung für die Ausländerbehörde, durch Verwaltungsakt die Titelerteilungssperre - auch unabhängig von einem Einreise- und Aufenthaltsverbot - zu verfügen. [...]

a) Das nationale Recht kann zur Ausgestaltung des weiteren Aufenthalts des ausgewiesenen Ausländers ein Titelerteilungsverbot vorsehen; das vorrangige Unionsrecht enthält hierzu keine Vorgaben, die zu beachten wären (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 42 <Stand: 10/2022>). [...]

.Dass § 11 AufenthG eine Titelerteilungssperre unabhängig von einem Einreise- und Aufenthaltsverbot zulässt, ergibt sich anhand einer Auswertung der Gesetzeshistorie, die verdeutlicht, dass zwischen dem Verbot von Einreise und Aufenthalt sowie dem Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels getrennt wird. [...]

Es lässt sich aus der Entstehungsgeschichte nicht schließen, der Gesetzgeber habe für den Fall, im dem - letztlich aus Gründe des Unionsrechts - kein Einreise- und Aufenthaltsverbot verfügt werden darf, auf eine Titelerteilungssperre "verzichtet". Dem würde der - vom Gesetzgeber stets verfolgte - Gedanke der Gefahrenabwehr widersprechen, der der Ausweisung und den mit ihr verbundenen Folgen innewohnt. Auch die Titelerteilungssperre, mit der konsequent eine (erneute) Legalisierung des Aufenthalts für einen bestimmten Zeitraum vermieden wird, ist ein Mittel der Gefahrenabwehr.

c) Im Übrigen ist die Titelerteilungssperre aber nicht nur ein Mittel der Gefahrenabwehr, sie legt ferner im Interesse des Ausländers und seiner Lebensplanung fest, wie lange der Zeitraum ist, in dem er eine Legalisierung seines Aufenthalts aufgrund einer vorangegangenen (inlandsbezogenen) Ausweisung nicht erwarten kann (vgl. hierzu grds. BVerwG, Urteil vom 10.07.2012 - 1 C 19.11 -, juris Rn. 30 ff.), weshalb auch ein Anspruch des Ausländers auf eine korrekte Bestimmung dieser Frist besteht.

3. Im vorliegenden Fall erweist sich die Titelerteilungssperre als im Ergebnis fehlerhaft.

b) Über die Dauer der Titelerteilungssperre ist jedoch entsprechend § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden, weshalb bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt für die Rechtmäßigkeit - hier der Entscheidung des Senats - die Ausländerbehörde während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle ihrer Entscheidung und ggf. zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen trifft (vgl. allg. - auch zu den Anforderungen an Form und Handhabung der Nachbesserung gem. § 114 Satz 2 VwGO - BVerwG, Urteile vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris. Rn. 58, vom 13.12.2011 - 1 C 14.10 -, juris Rn. 18, und vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 -, juris Rn. 27; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 18.03.2021 - 8 ME 146/20 -, juris Rn. 16, 21). Erfolgt die Anordnung eines Titelerteilungsverbots aus Anlass einer inlandsbezogenen Ausweisung, so gelten die für die Festlegung der Dauer eines Einreise- und Aufenthaltsverbots anzustellenden Erwägungen entsprechend.

Die Ausländerbehörde muss bei einer unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr trägt. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, das heißt verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben insbesondere aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 66, und vom 22.02.2017 - 1 C 27.16 -, juris Rn. 23). Erfolgt die Ausweisung - wegen der Notwendigkeit der Einhaltung des Refoulement-Verbots - inlandsbezogen, ist für die Einordnung von persönlichen Belangen als schützenswert nicht allein maßgebend, ob sie dem Ausländer eine aufenthaltsrechtlich beachtliche Rückkehrperspektive vermitteln, was für den Regelfall der rückkehrbezogenen Aufenthaltsbeendigung gilt (vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteile vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 -, juris Rn. 57, und vom 07.09.2021 - 1 C 47.20 -, juris Rn. 14 ff.). [...]

Selbst wenn man aber unterstellt, es sei hinreichend klar, dass nur noch die Begründung im Bescheid vom 02.03.2022 in Verbindung mit der Protokollerklärung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung des Senats für die Begründung der Länge der Sperre maßgebend ist, lässt dies keine ermessensfehlerfreie Fristbestimmung erkennen. Die Frist ist allein spezialpräventiv begründet. Den Ausführungen im Bescheid zufolge sei es abwegig nach weniger als zwei Jahren in der Freiheit vom Entfallen der Wiederholungsgefahr auszugehen (S. 4, 2. Abs.; vergleichbar auch S. 3, vorletzter Abs.). Das ist aber nicht der zutreffende Ausgangspunkt für die prognostische Einschätzung des öffentlichen Interesses an der Gefahrenabwehr. Wäre die Wiederholungsgefahr entfallen, dürfte schon keine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen ergehen. [...]

Im Übrigen ist es auch nicht stringent, dass die positiven Tendenzen während der Haft sowie das beanstandungsfreie Verhalten während des Bewährungszeitraums Gesichtspunkte sind, die - in einem zweiten Schritt im Anschluss an die Gefahrenprognose - als ein persönlicher Belang für die Verkürzung der Höchstfrist von zehn Jahren angesehen werden (Bescheid S. 3, 2. Abs.), jedoch auf der ersten Stufe in ihrer Bedeutung ausgeblendet werden.

Erweist sich allein schon aus diesen Gründen die Festlegung der Dauer der Titelerteilungssperre und damit der entsprechende Verwaltungsakt insgesamt als rechtswidrig (vgl. insoweit die Rspr. zum Einreise- und Aufenthaltsverbot <BVerwG, Urteil vom 07.09.2021 - 1 C 47.20 -, juris Rn. 10; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18.06.2021 - 4 LB 443/19 OVG -, juris Rn. 17; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2020 - 11 S 3477/19 -, juris Rn. 19>, die übertragen werden kann), kommt es auf die Frage, wann bei der Titelerteilungssperre die Frist beginnt - Wirksamkeit der Ausweisung mit Blick auf § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG oder Bestandskraft der Ausweisung (vgl. dazu Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, § 11 Rn. 67 <Stand: 10/2022>) - nicht mehr an. [...]