Flüchtlingseigenschaft für homosexuellen Mann aus dem Irak:
Homosexuelle Personen sind im Irak von Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen betroffen, die gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleichkommt. Es droht ihnen physische oder psychische Gewalt. Staatliche oder sonstige Organisationen sind nicht willens oder in der Lage, gemäß § 3d Abs. 2 AsylG Schutz zu bieten, und es gibt auch keine innerstaatliche Schutzalternative, da es im ganzen Land zu Übergriffen auf homosexuelle Personen kommt.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Berlin, Urteil vom 02.11.2021 - 29 K 285.17 A - berlin.de; siehe auch: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 09.08.2019 - 15a K 2869/17.A - asyl.net: M27846)
[...]
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers vor. Dem Kläger droht bei einer gebotenen Gesamtbetrachtung des Einzelfalls aufgrund seiner Homosexualität im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe (homosexueller Männer) und interner Schutz steht nicht zur Verfügung. [...]
(2) Aufgrund seiner Homosexualität, aufgrund derer er homosexuelle Beziehungen auslebt, ist der Kläger im Irak beachtlich wahrscheinlich einer Gruppenverfolgung ausgesetzt.
Homosexuelle Männer im Irak stellen eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. [...]
Es liegt auch eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG vor.
Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger als homosexueller Mann, der Homosexualität auslebt, im Irak verfolgt würde. [...]
Dies trifft auf Homosexuelle im Irak zu. Das Verwaltungsgericht Berlin hat dazu ausgeführt (Urt. v. 2. November 2021 - 29 K 285.17 A -, juris Rn. 23 ff.):
"Im Irak sind Homosexuelle betroffen von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die gem. § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (wohl einen Nachfluchtgrund für Homosexuelle im Irak bejahend VG Ansbach, a.a.O. Rn. 26). Insbesondere droht ihnen physische oder psychische Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Eine hinreichende Verfolgungsdichte liegt vor (vgl. hierzu VG Hamburg, Urteil vom 8. November 2018 a.a.O. Rn. 37 ff.). Dies ergibt sich aus den gerichtlichen Erkenntnissen:
In dem seit 2003 gültigen irakischen Strafgesetzbuch (Nr. 111 von 1969 in der Fassung vom 14. März 2010) stellen im gegenseitigen Einvernehmen durchgeführte homosexuelle Handlungen erwachsener Personen zwar keinen Straftatbestand mehr dar. Allerdings sollen die Strafnormen, die sich beispielsweise mit der "öffentlichen Moral", Sodomie oder der "Ehre" befassen, so vage definiert sein, dass sie laufend gegen Mitglieder sexueller Minderheiten eingesetzt werden können [...]
Auf der Ebene des Stammesrechts können Stämme Mitglieder aus ihrem eigenen Stamm töten, wenn sie ein sog. schwarzes Verbrechen (as-souda) begehen - wie etwa homosexuelle Handlungen (vgl. UNCHR, Tribal Conflict Resolution in Iraq, 15. Januar 2018, S. 2 Fußnote Nr. 9 m.w.N.). Scharia-Richter sollen bekannt dafür sein, Hinrichtungen von Männern und Frauen auf Grund von gleichgeschlechtlichen Beziehungen anzuordnen, obwohl das irakische Rechtssystem nicht an Entscheidungen der Scharia-Gerichte gebunden ist (vgl. ACCORD, Lage von LGBTI-Personen, 9. Februar 2017, S. 3 m.w.N.).
Große Teile der Bevölkerung lehnen Homosexualität als unvereinbar mit Religion und Kultur ab. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung bis hin zu Ehrenmorden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22. Januar 2021, S. 15). [...]"
Der Einzelrichter schließt sich diesen Ausführungen an, zumal sie bestätigt werden durch aktuelle Erkenntnismittel. [...]
Vom Kläger kann schließlich nicht verlangt werden, seine wahre Identität zu unterdrücken und eine andere vorzutäuschen. Weder darf dies von Homosexuellen verlangt werden, noch darf von ihnen verlangt werden, dass sie sich bei der Ausübung ihrer Sexualität mehr als andere zurückhalten (vgl. EuGH, Urt. v. 7. November 2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 70 ff.).
Ausgehend von den obigen Ausführungen geht die Verfolgungsgefahr von einem nichtstaatlichen Akteur i.S.v. § 3c Nr. 3 AsylG, etwa schiitischen Milizen, Sharia-Gerichten oder Stammesführern aus.
Der Staat, Parteien oder (internationale) Organisationen sind nicht willens oder in der Lage, Schutz vor Verfolgung gemäß § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. [...]
(3) Der Kläger kann nicht auf internen Schutz i.S.v. § 3e AsylG verwiesen werden. Wie dargelegt finden Übergriffe auf Homosexuelle im ganzen Land statt, auch in der Region Kurdistan. Es fehlt an der nötigen Schutzfähigkeit und dem Schutzwillen staatlicher Akteure i.S.v. § 3d AsylG im gesamten Gebiet des Irak (Vgl. VG Chemnitz, Urt. v. 11. November 2021 - 2 K 310/17.A -, juris; VG Berlin, Urt. v. 2. November 2021 - 29 K 285.17 A -, juris Rn. 32; VG Dresden, Urt. v. 19. März 2021 - 13 K 2639/18.A -, juris Rn. 33; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 14. April 2022 - 13a K 3079/17.A -, juris}. [...]